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Versuch, Sieg, Geschichte, Tränen

Sensation Die Japaner schlagen bei der WM in England in einem irrwitzig spannenden Spiel den zweimaligen Weltmeister und Topfavoriten Südafrika mit 34:32 und stellen die eigentlich festgefügte Rugbywelt auf den Kopf

David gegen Goliath: Südafrikas Victor Matfield wird aufgehalten vom Japaner Kosei Ono Foto: reuters

von Reiner Metzger

„Sie glauben, Sie seien in einem Paralleluniversum gefangen? Falsch. Es ist real.“ So bereitete am Samstag ein Kommentator seine Hörer auf die größte Sensation in der Geschichte der Rugbyweltmeisterschaften vor: Außenseiter Japan hat Südafrika, den zweimaligen Weltmeister, mit 34:32 besiegt.

Japan ist zwar kein Rugby-Zwerg. Das Land wird Gastgeber der nächsten WM 2019 sein, dort gibt es mit 600.000 Rugbyspielern die zweitmeisten Aktiven auf der Welt, nach England, dem Gastgeber der aktuellen WM. Rein statistisch gesehen ist Japan also die Nummer zwei. Aber Rugby ist für Zweitbeste ein gnadenloser Sport. Glück bringt einen im Gegensatz zum Fußball nicht weit. Mauern und vorne zufällig einen versenken, das geht im Rugby nicht. Nur wer über alle 15 Spieler hinweg Weltspitze ist, kann mithalten. Japan war bei jeder WM dabei, aber es fehlte die letzte Finesse, teilweise auch schlicht die Masse: Wer nicht genügend Spieler mit über 100 Kilo, mit Spielwitz und genügend Kondition auf dem Rasen hat, der kann die Gegner nicht lange in Schach halten.

Doch die Japaner haben aufgeholt. Ihr Coach Eddie Jones, Sohn einer Japanerin, war schon erfolgreicher Nationaltrainer in Australien und pikanterweise beim letzten WM-Sieg der Südafrikaner deren Assistenztrainer. „Wir sind noch nicht fertig“, versprach Jones dem Rest der geschockten Rugbywelt.

Jones hatte die Zahl der Fremdenlegionäre aus Südafrika und Neuseeland im Team reduziert. Sein Kapitän Michael Leitch stammt zwar aus dem rugbyverrückten Fidschi, kam aber mit 15 Jahren nach Japan, „um zu lernen“, wie er sagt. Und wie er gelernt hat. Die Lektion werden die Südafrikaner lange nicht vergessen. Das ganze Spiel über setzten die Japaner die Springboks unter Druck. Nach dieser schnellen und kampfeslustigen Gazelle nennen sich die Südafrikaner. Das Schlimme für die Afrikaner: Es stand ihr bestes Team auf dem Feld. Der Käpt’n Jean de Villiers war wieder von einer Verletzung genesen. Außen auf der Ecke die ikonische Versuche-Maschine Brian Habana, der für gute Zwecke mit Geparden und startenden Flugzeugen um die Wette rennt.

Den Japanern fehlte früher schlicht die Masse: Wer nicht genügend Spieler mit über 100 Kilo auf dem Rasen hat, der kann die Gegner nicht lange in Schach halten

Die Achse dieser furchterregenden, teilweise überharten Mannschaft stellen traditionell die Buren, Nachfahren holländischer Einwanderer mit Namen wie Bismarck du Plessis. Und mit einer mühsam überwundenen Geschichte von Rassismus und Apartheid. Immer noch gibt es im Rugbyverband Streit, ob genügend farbige Spieler bei den Springboks spielen.

Doch keiner hatte an diesem Nachmittag Zeit, über Politik nachzudenken. Die letzten fünf Minuten waren irre. Südafrika führt knapp. Verliert den Ball tief in der japanischen Hälfte. Eigentlich keine große Gefahr. Und dann spielen die Japaner nach all der Anstrengung fehlerfrei Pass um Pass, schlagen Haken, verwirren die Springboks mit Richtungswechseln. Wie die Rammböcke rennen die Japaner immer wieder in die grün-gelben Kerle, treiben sie zurück, verlieren den Ball einfach nicht. Trotz der vielen Getümmel um den Ball am Boden, nach jedem Tackle. Werden einen halben Meter vor der Endzone aufgehalten, regelwidrig. Ein Südafrikaner fliegt vom Platz. Als wäre nichts, machen die Japaner einen der von zwei Reihen umkämpften Rugby-Einwürfe fünf Meter von der südafrikanischen Linie. Schlagen die Südafrikaner mit ihrer ureigensten Waffe, einem marschierenden Keil von Stürmern, die den Gegner wegschieben. Bis ins Malfeld. Wie demütigend für die Böcke, auf eigenem Gebiet geschlagen zu werden. Von „mutigen Blüten“, wie sich die Japaner nach den Kirschblüten auf ihrem Trikot nennen. Doch der Schiedsrichter gibt den Versuch nicht für die Japaner, weil unklar ist, ob in all den Schichten Menschen der Ball auch wirklich den Boden in der Endzone berührte. Also wieder fünf Meter zurück. Gedränge, das Schieben von jeweils acht über hundert Kilo schweren Männern, der Ball wird von Japan in die Mitte eingeworfen. Südafrika kriegt wieder eine Strafe, weil sie dem Druck nicht standhalten. Die achtzig Minuten sind vorbei. Sobald nun ein Fehler auftritt, wird das Spiel abge­pfiffen, Südafrika wäre gerettet. Doch die Japaner machen keinen Fehler. Drei Minuten lang brechen sie wieder Löcher in die Verteidigung, spielen ganz nach rechts, wieder nach links. Rennen, als ob es die erste Minute des Spiels wäre. Legen einen herrlichen Versuch ganz außen in der Ecke. Fünf Punkte. Sieg. Geschichte. Tränen.

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