Armut, Schnaps und Prostitution: Die Hurdy-Gurdy-Girls
Eine Vorfahrin unserer Autorin floh im 19. Jahrhundert aus dem Westerwald und wurde Tanzmädchen in den Londoner Saloons. Eine Spurensuche.
Susanna Schamp war so etwas wie meine Ururgroßtante und sie war in Scholmerbach geboren, genau wie ich, aber gestorben ist sie in Viktoria, Australien. Susanna ist damals nicht freiwillig über die Meere gefahren, um in den Saloons der Goldgräber zu tanzen, aber es scheint, als hätte sie dort ihr Glück gemacht. Sie hätte genauso gut tot sein können und von Jack the Ripper aufgeschlitzt in den Straßen von Whitechapel liegen können.
Aber sie hat überlebt und das ist viel, was man von den Menschen aus meiner Heimat sagen kann. Im 19. Jahrhundert herrschten überall verheerende Hungersnöte und in den Dörfern starben die Leute an allem, was es gab, außer an der Beulenpest. „Hier im Westerwald“, sagten die Alten, „da gab es nichts, nichts und naut, garnaut, garnaut, wir waren nichts, wir hatten nichts, nur Armutei und Säuerei“. Es war mir immer vorgekommen, als wären meine Ahnen aus einem schwarzen Abgrund hervorgekrochen und das Garnichts interessierte mich.
So setzte ich mich in die Kirchenarchive von Limburg an der Lahn, – sie liegen praktisch unter der goldenen Badewanne eines unrühmlichen Bischofs – und las auf den fleckigen Papieren mit steiler Sütterlinschrift von den Tagelöhnern und Dienstmägden, Schäfern, Schneidern, Zimmerleuten, Soldaten, Wirtsleuten und vor allem Leuten des Bauernstandes katholischer Konfession. Viele „Weibspersonen“, die als Dienstmägde nach Koblenz, Metternich oder Essen gingen, kehrten als ledige Mütter zurück und starben unmittelbar darauf mitsamt den vaterlosen Kindern.
Mit so viel seltsamen Toden hatte ich nicht gerechnet, doch nicht in Scholmerbach. Was hatten sie denn mit den Frauen und Kindern gemacht, sie in Brunnen geworfen oder in Ställe gesperrt und umkommen lassen? Ich war von dieser Entdeckung noch einigermaßen benommen, da fand ich auf einmal Susanna Schamp, geboren 1829 in Scholmerbach, geheiratet 1852 in London, 1891 verstorben in Australien.
Ich musste daran denken, wie einmal der Feuerwehrmann bei der 50-Jahrfeier vorlas, früher seien die Leute so arm gewesen, da haben sie ihre Kinder fahrenden Leuten mitgegeben und viele davon kehrten nie wieder. Ich las weiter: Susanna, Susannah, vierzehn Geschwister, sieben gestorben, tote Mutter, Stiefmutter, tote Stiefmutter, ein mit so dürren Lettern eingekrakelter Vater „Pfillip“, dass ich förmlich sein schief stürzendes, tintenfarbenes Gerippe sehe, ein Säufer. Ich weiß das, denn alle meine Vorfahren waren schließlich Säufer.
Dreimal am Tag Branntwein
Kein Umstand wird so unumwunden, so ausführlich in den sozialgeschichtlichen Abhandlungen beschrieben, als dass meine Urururgroßväter morgens Branntwein tranken, mittags Branntwein und in der Wirtschaft am Abend noch mal Branntwein. Ich stellte mir vor, wie sie hungerkrank mit hervorstehenden Knochen, brennenden Gedärmen und ihren roten, bäuerlichen Wangen durch ihre Leben torkelten und in den Straßengraben fielen, wo sie elendiglich umkamen. Priester, Gendarmen und Herzog Adolph von Weilburg kämpften gleichermaßen gegen die „Branntweinpest“ mit Sperrstunden und Mäßigkeitsvereinen.
Aber meine Urgroßmutter sagte: Himmel und Erde werden vergehen, niemals aber der Suff und der Suff. Durch Schwindsucht, Scharlach und Nervenfieber, Kartoffelfäule und Missernten wurden die Kirchhöfe so voll, dass man die Toten nur noch höchst kraftlos und unordentlich begrub. Nach dem Frostwinter um 1847 beschwerte sich Pfarrer Hölper beim Bischof von Limburg, dass beim Tauwetter die Knochen aus den Gräbern geschwemmt wurden und niemand mehr wusste, wem denn nun dieser Arm oder jenes Bein gehörte, überhaupt müsse man die lieben Verstorbenen viel zu früh aus den Gräbern reißen, um den neuen Toten Platz zu machen, man brauche also einen größeren Kirchhof.
Annegret Held ist Autorin. Ihr aktuelles Buch „Armut ist ein brennend Hemd“ (Eichborn) ist gerade erschienen
In dieser Zeit also wuchs Susanna heran und war eine der vielen „Jungfern“, wie sie der Landarzt beschrieb: ohne rechten Wuchs, mit schleppendem Gang, schiefen Schultern, bleichen Wangen, grindigen Mündern und aufgerissenen Lippen. Militärärzte beschwerten sich allenthalben, keine Soldaten mehr ausheben zu können, da die jungen Männer von schlechter Statur waren mit Trichterbrust, von Furunkeln übersät, zu schwach um ein Gewehr zu heben.
Nichtsdestoweniger stürzten sich die bleichen Jungfern auf die hohlbrüstigen Hungerleider, um auf Viehmärkten und Kirmessen zu tanzen, begierig nach Vergnügungen. Fahrende Händler mit ihren Besen, Papierblumen, Mückensalben, Zinkwaren und Heiligenbildchen waren die Attraktion und erzählten schauerliche und aufregende und immer neue Geschichten, zogen sie doch aus der Wetterau oberhalb Frankfurts durch den Westerwald bis nach Siegen und Essen oder auf der Köln-Leipziger Straße nach Sachsen, schließlich nach Holland, Frankreich und England.
Mägde, die auf der Drehleier spielen
Schon früh hatten Wetterauer Händler sich Knaben verdungen, die ab etwa 14 Jahren mitreisten, um den Esel zu führen oder in der Nacht unterwegs Papierblumen aus Pergament zu drehen, die auf den Märkten verkauft wurden. Als aber die Händler merkten, dass sie ihre Waren viel besser verkaufen konnten, wenn Mädchen in ihren Trachten dazu hessische Tänze aufführten, begannen sie auf den Dörfern überall minderjährige „Mägde“ anzuwerben, die für sie tanzten oder auf der Drehleier spielten.
Wann Susannah Schamp zum ersten Mal mit den Händlern mitging, lässt sich nicht sagen. Im Jahr 1847 taucht sie aber in den Passagierlisten von Rotterdam nach Dover auf, gemeinsam mit ihrer Schwester Margueritta, eingetragen als „Musicians“, da war sie siebzehn Jahre alt.
Im viktorianischen London herrschte eine Enge in den Armutsvierteln, Immigranten aus Irlands Hungersnöten und russische Juden drängten sich auf den Straßen, in den Lodginghäusern wurde ein halbes Bett in drei Schichten täglich vermietet. Die offenen Aborte und eine kotschwere Themse verursachten eine Fliegenpest.
Die Wetterauer Händler aber banden aufgelesene, schmutzige Hühnerfedern von ihren Hungerhöfen daheim an Weidenstöcke und geboren war der „Fliegenwedel“: „A big one for the Lady – A little one for the baby!“
Die Fliegenwedel wurden zum größten Verkaufsschlager, man riss sie den tanzenden, hessischen Mädchen nur so aus den Händen. Plötzlich klingelten die Cent und Schillinge in ihren Taschen. Wenn sie nun nach der von März bis November dauernden Reise in die Dörfer zurückkehrten, trugen sie neue bunte Kleider und Kapotthütchen, brachten Zuckerwaren und zahlten mal eben den Wucherern die Hypothek auf das Elternhaus ab. Sie brachten aber auch einiges andere mit: fremde Flüche wie „Sacre Bleu“ oder „Goddamn“, manche von ihnen waren frech und liederlich geworden, tranken Branntwein, schwatzten den ganzen Tag und waren sich fortan zu schade für die Stallarbeit.
Lotterleben und sittlicher Verfall
Den Priestern, Schultheißen und Gendarmen war die „Umherzieherei“ der Mädchen ein Dorn im Auge und man fürchtete ihren sittlichen Verfall. Der Zweifel um die Herkunft ihrer prächtigen Kleider durch ein gewisses Lotterleben im Ausland war gesetzt.
Schließlich wurde bei jedem Mädchen oder Knaben ein „Contract“ aufgesetzt, in der sich Schultheiß, Vater und Händler im Wirtshaus trafen und das Kind „veraccordieret“ wurde, um etwa mit „dem Händler Peter Sänger aus Münster, für 30 Gulden + ein Paar Schuhe + ein Kittel musizierend nach Frankreich zu gehen. Auf 14 Tage krank liegend werden keine Abzüge gemacht“.
Doch allen Bemühungen der Obrigkeit zum Trotz nahm der Kinderhandel oder vielmehr der Kindermiethandel zu: Die singenden und musizierenden Halbwüchsigen, meist ab 14 Jahren, zogen nun mit ihren „Herren“ durch ganz Europa, von Rotterdam hinauf bis nach Finnland und von dort nach Sankt Petersburg, der rauschenden und prächtigen Zarenstadt mit nicht weniger als 97 Bordellen. Die Knaben spielten Quetschkommode in den russischen Hurenhäusern, die Mädchen bettelten und tanzten und schlichen sich in die Herzen wohlhabender Damen, die Mitleid hatten mit den „armen, teutschen Kindern“. Fern der Heimat und fern der elterlichen Aufsicht wurden die Kinder oft geschlagen und misshandelt, und man nannte sie in ganz Europa „The German Slaves“ oder „Les Esclaves d’Allemagne“.
Die Drehleiermädchen in ihren geschnürten Leibchen, mit ihren „Rhinelander“-Tänzen und dem zarten Ruch von Verwahrlosung erweckten offenbar auf allen Jahrmärkten ähnliche Begehrlichkeiten und riefen gewiefte Mädchenhändler auf den Plan. Der Übergang zur Prostitution war fließend. Man nannte die Mädchen frei nach ihrem Instrument „Hurdy-Gurdy-Girls“ und ließ sie in den Londoner Hafenkneipen als Attraktion des Abends tanzen: „German Hurdy-Gurdy-Girls are coming to town!“
Wie Südstaatenköniginnen
Susanna Schamp und ihre Schwester Margueritta sind 1850 registriert als wohnhaft in Whitechapel, damals Bakerstreet. Margueritta blieb bis 1880, noch während der Zeit, als dort Jack the Ripper sein Unwesen trieb und wo man noch heute das „Ten Bells“ findet, in der die elenden Huren ihre Freier fanden.
In den Hafenkneipen tummelten sich die Seefahrer aus aller Welt, sie brachten Gewürze aus Sansibar und Seidenstoffe aus China, und Tabak aus Kolumbien. Vor allem aber brachten sie die Kunde vom Goldrausch in die vernebelten Köpfe der Tanzsäle wie dem „Old Rose“.
Es zog sie nach Colorado, zum Klondike River oder nach Viktoria. Die Hurdy-Gurdy-Girls segelten mit den Goldsuchern über die Meere und tanzten in der Saloons, gekleidet wie Südstaatenköniginnen in prächtigen Krinolinenkleidern.
Susanna fand in Australien ihr Glück mit dem Minenarbeiter John Henry Strack. Ihre zahlreichen Nachkommen leben noch heute dort und in Neuseeland. Andere Mädchen kehrten nach Hause zurück, gebrochen und krank, andere verschwanden wie Margueritta in den Armutsvierteln von London.
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