Die Bundeszentrale für politische Bildung steht auf Locken, Zeitzeugen erzählen von bunten Pillen, und im KaDeWe wird Schokolade geklaut
: Früher war der Nagellack dünnflüssiger

Ausgehen und Rumstehen

von Julika Bickel

Wie viel Zeit die Menschen früher in ihre Frisuren gesteckt haben! Im Spiegel beobachte ich, wie die Maskenbildnerin meine Haare in eine Löwenmähne im Stil der 80er Jahre verwandelt. Ich sitze in einem Raum im Radialsystem V, der für das Festival „Trümmern und Träumen“ zu einem Friseursalon umfunktioniert wurde, und komme mir wunderbar albern vor. Meine Haare sind mit Papilloten zu Schnecken aufgewickelt.

Auch die Damen von der Bundeszentrale für politische Bildung, die als Veranstalter firmiert, wollen sich frisieren lassen. „Gleich sind wir dran!“, ruft die eine der anderen zu. Wie kann sie das denn denken? Ich bin doch noch gar nicht geschminkt! Im Hintergrund läuft Musik aus den 80ern, vielleicht ein Song von Sandra. Während mir die Maskenbildnerin die Fingernägel in Neonorange lackiert, erklärt sie, dass Nagellack früher dünnflüssiger gewesen sei. Ah ja.

Mit toupierten Locken, einem Haarband, viel Haarspray, kurz gesagt big hair, stolziere ich nun auf das sogenannte Zeitzeugenboot, das vor dem Radialsystem abfährt. Vorne sitzen auf Sofas ein gelangweilter Moderator und zwei Gäste, die von der wilden Zeit nach der Wende erzählen.

Während Jackie A. auch von ihren Erwartungen als Jugendliche an den kapitalistischen Westen spricht, erzählt Arne Grahm fast ausschließlich von Drogenexzessen. Jackie findet, dass man auch ohne’ne E Party machen konnte. Arne zählt hingegen eine Anekdote über rosa Pillen nach der anderen auf. Das sei so wunderschön gewesen! Zunächst lache ich noch, bald bin ich jedoch genervt vom Gelaber über Anarchie, Ecstasy und Gabber, einer Variante des Hardcore-Technos.

Viel lieber hätte ich mehr über seine Zwangsadoption erfahren. Als seine Mutter aus der DDR floh, wurde er in eine fremde Familie gegeben. Jackie erzählt von einer Ossi-Frau im KaDeWe, die sich mit der Begründung „Wir hatten ja nischt“ Schokolade in die Taschen steckte. „Ich hab mich so geschämt!“, sagt sie. Tja, schade, die zwei wollen halt unbedingt coole party people sein, und ich als 89er Kind bin vielleicht einfach zu jung, um das verstehen zu können.

Am Abend stehe ich am Bootsanleger der Mercedes-Benz-Arena. Ich hole mir gegen Pfand Kopfhörer zum Silent Clubbing. Wenn bloß der kalte Wind nicht wäre! Gern würde ich ein Bier trinken, stattdessen lümmele ich auf einer Treppenstufe und versuche mich mit Kaffee aufzuwärmen. Ulkig ist eine alte Lady, die mit Sektflasche umhertanzt. Als es endlich mit der Wasserinstallation klappt, entsteht ein absurdes Bild: Wie Aliens stehen alle mit ihren blau leuchtenden Kopfhörern Richtung Spree, wippen zu den Elektro-Beats und starren wie hypnotisiert auf die Wasserleinwand, auf die Fotos und Bewegtbilder aus der Wendezeit projiziert werden.

Ich muss ins Warme und frage daher einen der Rikschafahrer, ob er mich zum Tresor fahren kann. Ein ziemlich toller Service. Ich decke mich zu und höre Radio von vor 25 Jahren. Auch der Eintritt in den Club ist kostenlos. Etwa 15 Polizisten suchen nach einem blond gelockten Thommy. Tresor-Gründer Dimitri Hegemann plaudert mit Gästen über Leben, Lieben und Alltag in Ost-West-Berlin.

Danach zeigt sich der Club eher unspektakulär. Die Techno-Musik ist langweilig. Eine Freundin sagt, „das Außergewöhnlichste sind noch die Toiletten“, die nämlich wie Gefängniszellen aussehen. Dort frage ich mich, wie ich meine zer­zausten Haare jemals wieder gebürstet bekomme.