WORTKUNDE: Willkommenskultur – das (Un)Wort des Jahres
EINE ECHTE WILLKOMMENSKULTUR DARF NICHT ZWISCHEN NÜTZLICHENUND UNERWÜNSCHTEN ANKÖMMLINGEN UNTERSCHEIDEN
Hamburg-Wilhelmsburg, an einem Sonntagvormittag: Im Inselpark ist Open-Air-Gottesdienst. Und weil hier so viele Nationalitäten leben, muss man nicht lange warten, bis das erste Mal das Wort „Willkommenskultur“ fällt. Hier ist man stolz darauf, Flüchtlingen zu helfen. Deshalb berichten drei junge Leute von ihren Erfahrungen mit ihnen. Ein junger Mann mit schulterlangem Haar und Brille sagt: „Ihr im Hamburger Norden beschäftigt euch viel mit Work-Life-Balance und so. Wir gehen dafür samstags mit den Flüchtlingen spazieren.“ Eine Studentin erzählt: „Ich habe eine total liebe Familie aus Afghanistan kennengelernt. Das bereichert voll.“
Da ist sie also, die Willkommenskultur. Das Aufbäumen der Zivilgesellschaft, die sich anschickt Deutschland zu einem offenen Land zu machen. Menschen, die vor wenigen Jahren den Fernseher nach Bildern zerbombter Städte noch gleichgültig ausknipsten, sammeln jetzt Kleiderspenden, geben Deutschkurse oder begleiten zu Behördengängen. Kein Wunder, denn die Menschen aus den Nachrichten von damals wohnen jetzt in den Containern gegenüber.
Helfen wollen immer mehr. Weil es so was wie Empathie doch noch gibt. Weil das Bild von Menschen, die auf staubigen Parkplätzen in Zelten hausen, so nahe geht. Und weil es sich verdammt gut anfühlt, diesen Flüchtlingen zu helfen. Es ist das Bild vom hilflosen Flüchtling, das uns nach Feierabend oder am Wochenende doch noch zum guten Menschen werden lässt. Ein bisschen Spazierengehen oder schnell eine Kleiderspende vorbeibringen, und schon ist das Soll erfüllt. Und die Geschichte im Gottesdienst erzählt. Aber ist das rechte Maß für unsere Hilfe unsere eigene Zufriedenheit? Ist das Willkommenskultur?
Willkommen heißen kann man nur Fremde. Das Ziel der Willkommenskultur ist deshalb eigentlich, sich überflüssig zu machen. Sie will das Fremde abschaffen. Flüchtlinge sollen zu Hamburgern werden, zu Kielern oder Schleswigern. Aber wie? Das Sammeln von Kleidern, Deutschkurse oder eben auch Spaziergänge haben eines gemeinsam: Sie spielen sich in der Realität der Geflüchteten ab. Die Helfenden betreten Neuland, kommen in diese Realität hinein und engagieren sich über ihren Alltag hinaus. Und wenn sie gehen, bleiben die Flüchtlinge unter sich.
Damit die Ankommenden aber in der Realität außerhalb von Unterkünften und Behörden Fuß fassen, muss Willkommenskultur den nächsten Schritt gehen. Flüchtlinge sind nicht nur hilflose Menschen in Containern. Man kann sie auch als mehr wahrnehmen: Als neuen Linksaußen in der Kreisliga, als Bariton im Jugendchor, als Azubi in der Schreinerei. Als Teil von uns.
Doch die gesellschaftliche Bühne ist nicht die einzige, auf der darum gerungen wird, was Willkommenskultur eigentlich bedeutet: Den demografischen Wandel im Blick, ist in der Politik im Zusammenhang mit Willkommenskultur oft vom Fachkräftemangel die Rede. Unsere schrumpfende Bevölkerung braucht mehr hoch qualifizierte Arbeitskräfte. Geworben werden soll mit Willkommenskultur deshalb auch um Fachpersonal.
Wenn man aber zwischen brauchbar und unbrauchbar unterscheidet, dann bleibt ein Teil auf der Strecke. Dieses Willkommen ist im Umkehrschluss eine Absage an all jene, die in Deutschland nicht gebraucht werden. Und an alle jene, die anscheinend nicht genug Leid erfahren haben. Die Willkommenen stellt diese Form der Willkommenskultur vor die Frage, als wer oder was sie eigentlich willkommen sind. Gern gesehen ist ihre Produktivität. Die deutsche Wirtschaft anzukurbeln, dazu sind auch Ausländer willkommen. Dass da ein Mensch nach Deutschland kommt, ist allenfalls ein nötiger Nebeneffekt.
Dabei war es doch in der Regel mal Sympathie, aus der heraus wir willkommen hießen. In der Regel. Denn wie ehrlich ist ein Willkommen von Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz (SPD), das nur für vermeintlich echte Flüchtlinge gilt und vermeintlich falsche ausschließt? Diese Haltung interessiert sich nicht für die Missstände in Südosteuropa. Die Etikettierung eines Landes als sicherer Herkunftsstaat ändert jedenfalls nichts an ihnen. Sie dient höchstens als Gewissenserleichterung. Damit der Kopf wieder frei ist, die „echten“ Flüchtlinge willkommen zu heißen.
Nur selten ist Willkommenskultur die treffende Bezeichnung für das Geschehende, viel öfter der Versuch, Offenheit zu propagieren, wo es sie nicht gibt. Oder wie es Friedrich Küppersbusch in seiner taz-Kolumne schrieb: „Willkommenskultur kann sich noch entscheiden, Wort oder Unwort des Jahres zu werden.“ CHRISTOPH BOTKA
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