Klassik Asaf Levy ist Violonist und aus Israel. Nassib Ahmadieh ist Cellist und aus dem Libanon. Gemeinsam spielen sie im West-Eastern Divan Orchestra. Geht das gut? Ein Gespräch über Krieg, Ignoranz und Barenboim: „Die Araber lieben Wagner“
Gespräch Thomas Winkler und Felix Zimmermann Foto David Oliveira
taz.am wochenende: Sind Sie Freunde?
Asaf Levy: Wir?
Nassib Ahmadieh: So gut es geht, ohne dass es peinlich wird. Klar, wir kennen uns jetzt sieben, acht Jahre.
Levy: Fünf. Ich bin erst seit 2010 im Orchester.
Sind alle im West-Eastern Divan Orchestra enge Freunde?
Ahmadieh: Wir sind alle freundlich zueinander, aber wir sind nicht alle Freunde. Im Divan geht es zu wie in jedem anderen Orchester. Es gibt welche, die man besser versteht und lieber mag. Andere mag man eben weniger. Aber, und das ist entscheidend, das geht nicht nach Nationalität oder Religion.
Das Projekt ist ausdrücklich darauf angelegt, eine Brücke zu bauen zwischen den Religionen und Nationalitäten.
Levy: Ja, aber das passiert ganz von selbst – allein schon dadurch, dass man zusammen so viel Zeit verbringt, entsteht diese Brücke. Man sitzt auch zusammen beim Mittagessen und abends in der Kneipe.
Ahmadieh: Wir werden nicht gezwungen, miteinander zu reden. Die Stiftung lädt Gäste ein zu Themen aus Geschichte, Politik oder Musik. Da entstehen im großen Raum schnell Diskussionen, die dann im kleinen Rahmen, unter den Orchestermitgliedern, intensiviert werden.
Levy: Wir sind wie eine Familie. Da streitet man auch mal.
War das immer so entspannt?
Levy: In den ersten Jahren war die Stimmung sicher angespannter. Da hat sich was entwickelt. Es kommen immer neue Musiker dazu, aber die kommen nun in eine Atmosphäre, in die sie sich leichter integrieren können. Ich bin seit dem zweiten Jahr dabei, und für mich und viele andere, die lange dabei sind, war der Divan das erste Mal, dass wir jemanden aus der anderen Welt wirklich kennengelernt haben.
Es gibt keine Kluft zwischen Israelis und Arabern?
Ahmadieh: Nein. Natürlich entstehen kleine Gruppen, wie in jedem Orchester. Es gibt welche, die sind lieber mit anderen unterwegs, die ihre Muttersprache sprechen. Bei anderen ist es der Sport, der verbindet. Wieder andere machen gerne Party. Für mich war überraschend, dass ich feststellen durfte, dass ich mehr Gemeinsamkeiten mit Israelis habe als mit Deutschen. Wir haben einen ähnlichen Humor, wir sind leidenschaftlich und explosiv, wir mögen dasselbe Essen. Wir haben eine ähnliche Mentalität.
Man liest immer wieder auch von heftigeren Auseinandersetzungen im Orchester.
Levy: Klar, das kommt vor. Vor allem, wenn es gerade wieder brennt in der Region, reagieren viele emotional. Da wird es auch laut, aber nie persönlich.
Ahmadieh: Wenn der Krieg wieder aufflammt, wird der Austausch intensiver. Man merkt richtig, dass die Leute das Bedürfnis dazu haben. Vor zehn Jahren gab es das noch, dass sich Leute hingestellt und mit dem Austritt gedroht haben. Einmal hat sich ein Palästinenser sehr darüber aufgeregt, dass einzelne israelische Musiker in Siedlungen in der besetzten Westbank lebten. Sein Argument war: Wir sind hier, um die Völkerverständigung voranzutreiben – da kann es nicht sein, dass Einzelne von uns in Siedlungen leben. Auf der anderen Seite gab es Israelis, die laut wurden. Interessanterweise waren die Vehementesten oft die Israelis, die Israel kritisiert haben. Aber seit fünf, sechs Jahren ist es doch meist sehr friedlich.
Levy: Das Thema kommt immer wieder, natürlich, unsere Familien leben dort. Wir Israelis können erzählen, wie das ist, wenn der Raketenalarm losgeht und man in den Bunker muss. Und die anderen hören zu, ohne gleich zu erzählen, dass es bei ihnen viel schlimmer ist und sie bombardiert werden. Das heißt nicht, dass wir eine Lösung finden. Und das heißt nicht, dass wir die ganze Zeit reden. Wir machen auch manchmal Musik.
Ahmadieh: Das Orchester ist eine goldene Möglichkeit, die andere Seite kennenzulernen. Sonst bezieht man seine Informationen über die andere Seite bloß aus den Medien. Natürlich gibt es ein Nationalbewusstsein: Jeder will doch, dass es seinen Leuten gut geht und dass sein Heimatland ein sicherer Ort zum Leben ist. Bevor man zum Orchester kommt, denkt man vielleicht: Ich leide und die anderen sind daran schuld. Im Orchester merkt man, dass alle leiden. Man beginnt sich zu hinterfragen: Machen wir vielleicht auch etwas falsch, wenn die anderen so reagieren? Ich weiß, dass das nicht alle so sehen, aber ich finde das toll: dass wir die Gelegenheit haben, endlich beide Perspektiven einzunehmen – so schmerzhaft das manchmal sein mag.
Man wird quasi gezwungen, die fremde Perspektive einzunehmen?
Ahmadieh: Nein, man wird nicht gezwungen, sich mit anderen auseinanderzusetzen. Die meisten sind einfach neugierig, das kann man ja nicht abschalten.
Levy: Natürlich ist die Welt einfacher, wenn man nicht wissen will, wie die andere Seite denkt. Im Divan lernt man aber plötzlich Leute kennen, die cool sind und denen man sich nah fühlt und die trotzdem eine völlig andere Sichtweise haben. Ich weiß, dass Nassib kein Antisemit und kein Terrorist ist, aber warum denkt der ganz anders als ich über die Hamas? Was sieht der, was ich nicht sehe?
Ahmadieh: Es ist einfacher nicht zu wissen – aber ist es auch besser? Das gilt auch für die Musik: Der einfachste Weg in der Musik ist selten der beste. Wenn man sich nicht anstrengt, passiert nichts Gutes – ob in der Musik, der Politik oder der persönlichen Entwicklung. Die Wahrheiten, die unsere Regierungen verbreiten, haben uns seit siebzig Jahren keinen Schritt nach vorn gebracht. Im Gegenteil: Es wird eher schlimmer. Und eines der größten Probleme in der Region ist doch, dass die Leute viel zu wenig voneinander wissen. Dass Jerusalem von Ramallah zwanzig Kilometer entfernt ist, kann man nicht glauben. Da ist eine Welt dazwischen.
Levy: Für mich war es nie so einfach, dass ich gedacht hätte: Die sind die Bösen, wir sind die Guten. Ich war in meiner Jugend politisch aktiv, ich bin in den Neunzigern aufgewachsen in der schönen Zeit unter Rabin, als man Hoffnung haben konnte, dass es eine Lösung geben wird. Ich wusste schon, bevor ich zum Divan kam, dass es auf der anderen Seite normale Menschen gibt. Natürlich ist es etwas anderes, mit solchen Menschen zusammenzusitzen und zu reden.
Schön, dass im Orchester geredet wird. Aber wirkt das nach außen?
Ahmadieh: Ja, wir bringen neue Perspektiven ja mit nach Hause. Ich kann es nicht mehr dulden, wenn in meiner Gegenwart extreme Meinungen geäußert werden. Ich kann jetzt sagen: Ich kenne auf der israelischen Seite Menschen, die Frieden wollen und auch wissen, dass dieser Frieden etwas kosten wird. Im Libanon, meiner Heimat, wissen das viele Menschen nicht.
Merken Sie die Ansprüche, die man an Ihr Orchester hat? Die Erwartungen an das „Friedensorchester“?
Ahmadieh: Ich spüre die nicht. Wir sind in erster Linie in diesem Orchester, weil wir Musiker sind.
Levy: Wir sind keine Politiker, wir haben keine politische Mission. Ich glaube nicht, dass irgendeiner von uns denkt, er würde die Welt verändern. Zum Glück bekommt das Orchester viel Aufmerksamkeit – leider aber vor allem in Europa und in Nordamerika, nicht so sehr in der Region selbst.
Ahmadieh: Trotzdem ist das Orchester ein Beispiel für die Gesellschaft: Wir leben eine Situation, die es sonst nicht gibt.
Levy: Natürlich gibt es Konflikte. Menschen haben Konflikte. Aber zwischen Konflikt und Sich-Abschlachten gibt es noch was anderes.
Ist das WEDO ein Labor, eine Versuchsanordnung?
Levy: Nein, so sehe ich das nicht. Wir sind kein Experiment, wir sind nichts Abnormales. Im Gegenteil: Wir sind eine Oase der Normalität in einer Wüste des Irrsinns.
Im Orchester läuft es immer besser, in der Welt könnte es kaum schlechter laufen zwischen Israelis und Palästinensern. Frustriert Sie das nicht?
Levy: Sicher. Es wäre besser, es gäbe Frieden und wir spielen scheiße.
Kann man dem Orchester die Konflikte anhören, die es in ihm gibt?
Levy: Ich glaube, man kann die Leidenschaft für das Projekt hören. Die Energie im Konzert ist eine andere als in einem „normalen“ Orchester.
Gibt es ein Stück, das Israelis und Araber unterschiedlich interpretieren?
Levy: Die Araber lieben Wagner.
Sie lachen?
Levy: Nein, ich liebe Wagner auch.
Ahmadieh: Wir haben festgestellt, dass es wichtiger ist, welche Lehrer man hatte. Weil es aufgrund der Auswanderung viele russische Lehrer in Israel und Ägypten gab, kam es vor, dass ein Israeli und ein Ägypter ähnlich gespielt haben – beide diesen osteuropäischen, großen slawischen Ton hatten. Und der nächste Israeli klang ganz anders. Man hört nicht so sehr, woher einer kommt, sondern vor allem, wo einer studiert hat.
2005 hat das Orchester in Ramallah gespielt, das einzige Mal in der Region. Eigentlich ist das WEDO ein Orchester im Exil.
Levy: Wir haben auch in Katar und Abu Dhabi gespielt, aber das ist nicht dasselbe. Es wäre toll, wenn wir öfter in unserer Region spielen könnten.
Ahmadieh: Das wäre wirklich ein Sieg.
Was ist die Verkehrssprache im Orchester?
Ahmadieh: Englisch.
Levy: Die Sprache der Musik – wie man so schrecklich banal sagt.
Welche Macht hat sie, diese Sprache der Musik?
Levy: Es ist eine schlimme Formulierung, trotzdem ist was dran: Die Musik ist nun mal eine gemeinsame Sprache über kulturelle Grenzen hinweg.
Kann man gut mit jemanden spielen, den man hasst?
Levy: Ja, man kann.
Ahmadieh: Aber nicht auf Dauer.
Levy: Lieber nicht.
Ahmadieh: Und auch nicht freiwillig.
Levy: Ich kann zwar nicht für andere sprechen, aber ich glaube, Hass existiert nicht im Divan. Musik ist wie Kommunikation. Man baut eine Beziehungen auf, Charakter spielt eine Rolle, man spricht ohne Worte.
Ahmadieh: Musiker werden von klein auf darauf trainiert, diszipliniert zu sein und sich unterzuordnen. Andere Künstler, Maler oder Schauspieler, sind viel freier in ihrer Kunst. Musiker sind zwar individuell und inspiriert, aber auch darauf geeicht, sich anzupassen und in der Tradition zu bleiben. Selbst wenn ein Musiker ein Solo hat, muss er noch im Korpus funktionieren. Der Solist hat in diesem Moment zwar das Wichtigste zu sagen – aber nur in dem Rahmen, den die anderen geben.
Welche Rolle spielt Barenboim in diesem Prozess?
Levy: Ach, der ist nicht so wichtig.
Gelächter.
Ist Barenboim nicht als Psychologe gefragt?
Levy: Der ist kein Psychologe, der ist ein großartiger Künstler, eine sehr charismatische Person.
Ahmadieh: Beim Musizieren ist er kompromisslos. Er achtet nicht darauf, wie Einzelne seine Anmerkungen auffassen könnten. Wenn es um die Musik geht, ist es ihm egal, ob es einen Ausgleich im Orchester gibt.
Auch nicht, als es darum ging, Wagner zu spielen?
Ahmadieh: Das war 2008, als wir uns das erste Mal an Wagner gewagt haben. Das ist immer noch ein Tabu, aber eines, das Barenboims Meinung zufolge gebrochen werden muss. Er hat uns gefragt, was wir davon halten würden, Wagner zu spielen. Dann gab es eine Riesendiskussion, viele Stimmen dagegen. Manche haben geweint, andere gesagt: Das kann ich meiner Großmutter nicht antun. Drei, vier Tage dauerte das. Wir Araber fanden, dass die Entscheidung von den Israelis getroffen werden muss. Ich als Libanese kann ohne Wagner leben, aber auch mit Wagner.
Das Orchester: Das West-Eastern Divan Orchestra wurde 1999 in der damaligen europäischen Kulturhauptstadt Weimar gegründet – von dem israelisch-argentinischen Musiker und Dirigenten Daniel Barenboim und dem 2003 verstorbenen palästinensischen Literaturwissenschaftler Edward Said. Seitdem treffen sich die jungen Musiker aus Israel und arabischen Ländern einmal im Jahr zu einer Probenphase und anschließenden Konzerten. 2005 spielte das Orchester in Ramallah sein bislang meistbeachtetes Konzert, die Musiker waren mit spanischen Diplomatenpässen ausgerüstet. Am 15. August spielt das Orchester in der Berliner Waldbühne.
Der Cellist: Nassib Ahmadieh wurde 1977 in Kuwait geboren und ist im Libanon aufgewachsen. Erst mit 18 begann er ernsthaft mit der Musik, besuchte das Konservatorium in Beirut und spielte im Lebanese National Symphony Orchestra. Seit 2000 spielt er im West-Eastern Divan Orchestra, von 2004 bis 2007 studierte er mit einem Stipendium der Barenboim-Said-Stiftung in Weimar. Ahmadieh lebt mit seiner Familie im brandenburgischen Finsterwalde, unterrichtet an der dortigen Musikschule und rief 2011 mit Johanna Zmeck das Finsterwalder Kammermusik-Festival ins Leben.
Der Violonist: Asaf Levy wurde 1983 in Tel Aviv geboren, wo er auch aufgewachsen ist. Mit sechs Jahren begann er Violine zu spielen, später studierte er am Konservatorium in Tel Aviv. 2008 machte er seinen Diplomabschluss in Leipzig, spielte in diversen Ensembles und Orchestern und reüssierte als Solist. Seit 2011 spielt er in der Staatskapelle unter Barenboim, seit 2010 im West-Eastern Divan Orchestra. Asaf Levy lebt in Berlin.
Herr Levy, Sie waren damals noch nicht dabei, Sie hätten aber sicher für Wagner plädiert. Einmal haben Sie gesagt: „Wagner ist wie eine Drogenerfahrung.“
Levy: Ja, das stimmt auch. Wagner ist wie eine emotionale Achterbahn. Ich kannte als Israeli nicht viel Wagner, bevor ich an die Staatsoper kam. Ich hatte ein bisschen Angst vor Wagner, aber dann hat mich die Musik geschluckt.
Er war Antisemit. Stört Sie das nicht als Jude?
Levy: Klar stört es mich, aber das ändert ja nichts an seiner Kunst. Auch andere waren Antisemiten. Was hat Schumann über Juden gesagt? Was hat Bach von Juden gehalten? Was hat Chopin gedacht? Oder Shakespeare beim „Kaufmann von Venedig“? Das nimmt doch kein Ende. Ich hoffe, die israelische Gesellschaft ist mittlerweile reif genug, damit leben zu können, dass ein Komponist vor ein paar Jahrhunderten mal was Böses über Juden gesagt hat.
Was wird mit dem Divan passieren, wenn Barenboim abtritt?
Levy: Der wird nie abtreten.
Er ist 73 Jahre alt.
Levy: Der hat noch sechzig gute Jahre, mindestens. Der wird noch meine Enkel dirigieren.
Ahmadieh: Ich weiß, dass es Pläne gibt, einen weiteren Dirigenten einzubeziehen. Irgendwann wird das Orchester selbstständig werden müssen. Aber es ist schwierig, das sieht man am Gustav Mahler Jugendorchester. Abbado hat es gegründet, und es existiert auch nach seinem Tode weiter, aber nun wackelt die Finanzierung. Das Orchester ist wichtig für den Jugendaustausch in Europa, es wäre eine Schande, wenn die Idee mit Abbado sterben würden.
Levy: Ich hoffe, dass jemand wie Nassib und andere die Verantwortung übernehmen können, dass wir diese Idee nicht sterben lassen. Ich glaube, Barenboim ist nicht mehr nötig als unser Babysitter. Bei allem Respekt vor Barenboim: Das Thema ist größer als er.
Anders gefragt: Wenn der Konflikt im Nahen Osten gelöst werden sollte …
Levy: Ach, da machen Sie sich mal keine Sorgen …
… muss sich dann auch das West-Eastern Divan Orchestra auflösen?
Ahmadieh: Nein. Selbst wenn die Regierungen einen Vertrag unterschreiben, bedeutet das noch keinen Frieden. Da beginnt doch dann erst unsere Arbeit: Brücken zu bauen zwischen Menschen. Mit Kultur.
Thomas Winkler,50, ist Autor der taz
Felix Zimmermann,41, ist Leiter der taz.am wochenende
David Oliveira,33, ist freier Fotograf in Berlin
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