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Psychogramm Friedrich Ani hat einen neuen Ermittler. Jakob Franck heißt er und muss sich gleich mit der Frage beschäftigen, warum eine Jugendliche sich das Leben nahmGeheimnisse der Lebenden und der Toten

Ein pensionierter Kriminalbeamter ist die neue Ermittlerfigur von Friedrich Ani, eines mit Krimipreisen vieldekorierten Autors, von dem man aber gar nicht unbedingt sagen möchte, dass er sogenannte Krimis schreibe. Keineswegs gibt es immer Tote in seinen Büchern, manchmal geschieht nicht einmal ein Verbrechen, und Polizisten sind oft nur Randfiguren.

Auch Jakob Franck, Anis neuer Held, ist erstens nicht mehr Polizist und muss zudem auch in seiner Eigenschaft als noch amtierender Kriminalbeamter ein außergewöhnlicher Charakter gewesen sein. Da er über eine besondere Einfühlungsgabe verfügt, gehörte es unausgesprochen zu Francks Aufgaben, Angehörigen die Todesnachricht zu überbringen. Als nun, da er schon zwei Monate im Ruhestand ist, ein anderer älterer Mann ihn aufsucht, um ihn zu bitten, dem als Selbstmord deklarierten Tod seiner Tochter vor zwanzig Jahren noch einmal nachzugehen, erinnert Franck sich zunächst vor allem an das Überbringen der Nachricht. Stundenlang hatte er die Mutter der 17-jährigen Esther in den Armen gehalten, eine Frau in Kittelschürze, die sich später, genau ein Jahr nach dem Tod ihrer Tochter, auch umbringen würde. Da der Witwer, Esthers Vater, nach zwanzig Jahren immer noch überzeugt scheint, dass der Teenager sich auf keinen Fall selbst aufgehängt haben könne, willigt Franck ein, dem Fall, mit dem er einst nicht selbst befasst gewesen war, noch einmal nachzugehen.

Strich für Strich, gleichsam tastend entsteht ein skizzenhaftes Psychogramm der jung Verstorbenen. Mit jedem Gespräch, das Jakob Franck führt, erfährt er, erfahren die Leser, ein klein wenig mehr über die Jugendliche, die eines Wintertages tot an einem Baum im Park hing. Etliche der Informationen, die Franck bekommt, widersprechen sich. Es wird zunehmend deutlich, dass es schlicht unmöglich ist, einem Menschen in den Kopf zu schauen. Alle Einschätzungen sind zu einem guten Teil Projektion. Eines immerhin bekommt der Ermittler a. D. ziemlich bald heraus: was genau Esthers Mutter zum Selbstmord getrieben hat. Doch erfährt er es nur deshalb, weil sich ein Tagebuch findet, das die Unglückliche in den Monaten vor ihrer Tat führte.

Die Geheimnisse von Menschen, toten oder lebendigen, sind es, die Friedrich Ani als Autor vor allem interessieren, nicht ihre gewalttätigen Extremhandlungen. Dieses Interesse personifiziert sich hier in dem pensionierten Polizisten, der in seiner Wohnung regelmäßig Besuch von Toten bekommt, denen er während seiner beruflichen Laufbahn begegnet ist – vor allem solcher Toten, deren Schicksal er nie wirklich hat ergründen können. Auch im Fall der toten 17-Jährigen sieht es lange so aus, als könne sie eine von Francks regelmäßigen Besuchern werden. Doch dazu muss es nicht kommen, denn Ani findet einen recht salomonischen, halboffenen Schluss. Einerseits gewährt er seinem Protagonisten – und den Lesern – die Erleichterung, herauszufinden, was wirklich passierte. Gleichzeitig wird dabei um so deut­licher, dass es Geheimnisse gibt, letzte, unerklärliche Reste der Persönlichkeit, die die Lebenden mit sich herumtragen und die Toten mit ins Grab nehmen. Katharina Granzin

Friedrich Ani:„Der namenlose Tag. Ein Fall für Jakob Franck“. Suhrkamp Verlag, Berlin 2015, 301 Seiten, 19,95 Euro

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