: Quadratur des Kreises
Triennale für zeitgenössische Kunst und architektur Brügge, die Stadt, die ein Museum ist, erlaubt künstlerische Eingriffe im öffentlichen Raum, um eine neue Sicht auf die Altstadt zu provozieren
von Klaus Englert
Der englische Architekturvisionär Cedric Price fasste einmal die Geschichte der europäischen Stadt in einem kuriosen Vergleich zusammen, den er „Theorie des Rühreis“ nannte. Gemeint waren die drei Hauptstadien des Städtewachstums, angefangen bei den Befestigungsmauern der mittelalterlichen Stadt, die Price mit dem Dotter eines gekochten Eis in fester Schale verglich. Dieser Phase folgten die Stadterweiterungen während der industriellen Revolution. Sie kamen ihm wie ein Spiegelei vor, mit allseits zerfließenden Rändern um den Dotter. Im letzten Stadium leben wir heute – im urbanen Rührei, in dem Zentrum und Peripherie unterschiedslos und nach allen Seiten zerfließen.
Eigentlich dachte Cedric Price an ein geschichtliches Stadtmodell, doch Dotterstädte lassen sich noch heute finden, beispielsweise die Altstadt im belgischen Brügge, wenngleich die Stadtmauern längst geschleift sind. In Kartografien aus dem 16. Jahrhundert sah Brügge tatsächlich wie ein Eidotter aus, und an diesem Zustand hat sich bis heute nicht allzu viel geändert. Das hängt damit zusammen, dass die Menschen – und vor allem die Touristen – die mittelalterliche Stadt über alles lieben und deswegen den Stadtkern bewahren wollen wie einen Museumsschatz. Allerdings ist bei so viel Liebe das alte Brügge selbst zum Museum erstarrt, wo die Bauwerke unverrückbar und unverändert sind, so wie Jan van Eycks „Madonna mit Kind“ im hiesigen Groeningemuseum, das dort wie ein Heiligtum gehütet wird.
Brügges Bürgermeister Renaat Landuyt muss es irgendwann aufgefallen sein, dass sich eine kleine und überschaubare Stadt, die jährlich von 5 Millionen Touristen heimgesucht wird, wie im permanenten Würgegriff vorkommt. Landuyt schwebte deswegen eine urbane Akupunktur, ein kontrollierter Wandel vor, um endlich die Dauerparalyse zu überwinden. Die Idee des Bürgermeisters, eine „Triennale für zeitgenössische Kunst und Architektur“ zu veranstalten, wurde schließlich mitgetragen von den Kuratoren Till-Holger Borchert und Michel Dewilde. Allerdings lässt die Rezeptur an eine Quadratur des Kreises denken, da das bauliche Erbe selbstverständlich intakt bleiben musste.
Der Minimalkonsens lautete schließlich: künstlerische Eingriffe im öffentlichen Raum, um eine neue Sicht auf die Altstadt zu provozieren. Es war zu erwarten, dass die eingeladenen Künstler, die gewohnt sind, in den schönen Museumsbauten der Metropolen auszustellen, ihre liebe Not haben dürften, sich auf die besondere Situation Brügges einzulassen.
Plakative Lichtinstallation
Tatsächlich überrascht es nicht, dass etliche Kunstwerke auch in beliebigen anderen Städten ihren Platz gefunden hätten. Beispielsweise die etwas plakative Lichtinstallation der Norwegerin Anne K. Senstad über den Lagerhallen des Handelshafens: Die goldenen Lettern „Gold guides me“ kann man sich besser und provokativer am Times Square ihrer Heimatstadt New York vorstellen. Unweit des Hafengebiets ist dagegen dem israelischen Künstler Romy Achituv ein sehr eindringliches Bild zur Situation der Stadt gelungen: Achituv wählte das Modell eines typisch gotischen Wohnhauses mit Stufengiebeln und versenkte es in den städtischen Fluten.
Plötzlich erscheint das wohlbehütete Brügge mitgerissen im Strudel der globalen Wirrnisse – im „Cataract Gorge“, wie der Künstler sein Werk nennt. Plötzlich ohne Fundament, scheinen die schönen Baudenkmäler dem Fluss der Zeit ausgeliefert zu sein, entgegen dem allseitigen Wunsch nach Konservierung des guten schönen Alten.
Romy Achituv verstärkte die Kontrastwirkung, indem er das in den Fluten treibende Haus mit goldener Farbe überzog. Der dauerhafte Wert des Goldes und die zersetzende Kraft der Elemente – dieser Gegensatz scheint den Künstler anzutreiben. Achituv, in dessen Heimat der Siedlungsbau zum Mittel der Politik geworden ist, möchte die Bürger dafür sensibilisieren, über den Wert architektonischer Denkmäler angesichts unserer „grundstürzenden Neuerungswut“ (Martin Heidegger) nachzudenken.
Der deutsche Kurator Till-Holger Borchert, Direktor des Groeningemuseums, wünschte sich, die Triennale könne zum Motor der Stadtentwicklung werden und neue öffentliche Räume schaffen. Vielleicht Plätze mit neuer Identität. Das war sicherlich die wichtigste Antriebskraft hinter der Triennale, wenngleich dafür ein größeres Budget notwendig gewesen wäre. Aber in glücklichen Fällen gelingt es talentierten Architekturbüros, auch mit wenig Geld zu überzeugen.
Beispielsweise schuf das japanische Team Bow-Wow einen neuen öffentlichen Platz, ohne dabei den baulichen Bestand anzurühren. Der „Canal Swimmer’s Club“ ist eine überdachte schwimmende Plattform auf dem städtischen Kanal, die nicht nur zum Schwimmen im überraschend sauberen Wasser einlädt, sondern auch zu Feiern, Vorträgen und Ausstellungen. Es wäre zu wünschen, dass dieser außergewöhnliche multifunktionale Platz auch über den Zeitpunkt der Triennale den Bürgern erhalten bleibt.
Das gilt auch für „Bridge by the Canal“ des indischen Studio Mumbai, das eine bewohnbare Brücke konstruierte, allerdings nicht nach dem Vorbild von Florenz, sondern als hölzerne Passage entlang des Kanals, die zu neuen Perspektiven auf Brügge einlädt. Mehr und vielfältige Areale im Stadtraum schaffen, ohne dabei den architektonischen Bestand zu gefährden – dieser Losung haben sich die geglückten Beiträge gewidmet.
Nicht zu vergessen Tadashi Kawamatas Vogelnester im berühmten Brügger Beginenhof. Plötzlich hatte es den Anschein, als sei der Geist der lange als Häretikerinnen verspotteten Beginen wieder lebendig. In den Baumwipfeln des gemeinschaftlichen Hofes scheint er zu überleben. Auch das ein frischer Blick auf die lange Geschichte der kleinen belgischen Stadt.
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