: Lesen statt Wischen
Ausstellung Bei „Photo-Poetics“ in der Deutsche Bank KunstHalle stehen zehn Künstler für eine neue Strömung in der Fotografie: postdigitale Konzeptkunst. Kuratiert wurde das von der Guggenheim Foundation
von Jan Russezki
Überall sind Fotos. Ob in sozialen Netzwerken, der Werbung oder auf dem Cover des Lieblingsmagazins: Die Bilder werden flüchtig überflogen, auf dem Smartphone weggewischt und vergessen, als wären sie nie präsent gewesen. Jetzt zeigt die Deutsche Bank KunstHalle die Ausstellung „Photo-Poetics: Eine Anthologie“, die dazu auffordert, fotografische Werke zu lesen, statt sie nur zu überfliegen.
Die zehn internationalen Künstler der Gruppenausstellung dokumentieren eine neue Strömung in der zeitgenössischen Fotografie, die als postdigitale Konzeptkunst bezeichnet werden könnte. Mit ihren in Studios entstandenen Stillleben erzählen die Künstlerinnen – Elad Lassry ist der einzige Künstler in der Schau − von der Tradition, Magie und Materialität der Fotografie. Sie lassen aussterbende Fototechniken wiedererstehen und untersuchen darüber die Gesetze des Mediums und Fragen von Repräsentation und Reproduktion.
Die Ausstellung wurde von der New Yorker Solomon R. Guggenheim Foundation organisiert, von Jennifer Blessing und ihrer Assistenz Susan Thompson kuratiert. Blessing ordnete die Ausstellung und den dazugehörigen Katalog als Anthologie. Die Einzelräume, die jede Künstlerin hat, helfen, unterschiedliche Positionen zu ähnlichen Themen zu zeigen.
Im Raum von Claudia Angelmaier springen einem zwölf Hasen ins Auge. Oder besser: ein ganz bestimmter Hase. Der von Albrecht Dürer. Angelmaier hat zwölf Kunstbücher mit diesem Motiv aufgeschlagen, sie zusammen fotografiert und als großes Bild gedruckt. Die Arbeit aus der Serie „Pflanzen und Tiere“ (2004) trägt den Titel „Hase“. Die Abbildungen unterscheiden sich in Farbe, Auflösung und Maßstab, was das Interesse am Original weckt. Angelmaier setzt Reproduktion und Rezeption von Kunst miteinander in Verbindung. Werke der Malerei wie Dürers Aquarell „Hase“ werden häufig analog in Büchern und digital im Internet betrachtet. Nur über Reproduktionen kann man sich über (öffentlich oft nicht zugängliche) Kunstwerke informieren. Das Original rückt dabei in den Hintergrund.
Diesen Gedanken unterstreicht eine weiß leuchtende Fläche an der gegenüberliegenden Wand. An ihren Rändern sind ein Barcode, Copyright und ein feiner horizontaler Schriftzug in der Bildmitte zu sehen. Tritt man näher, dann erkennt man, dass es sich um die unbeschriebene Rückseite einer riesigen Postkarte handelt, die von hinten beleuchtet wird. Die Vorderseite, die durch den Karton ganz leicht hindurchschimmert, zeigt Gerhard Richters „Betty“. Die Leuchtkasten-Reproduktion bezieht sich nun ganz direkt auf die vorangegangene Reproduktion als Postkarte und spielt mit der Verfälschung des Formats des Originals, das in der Postkarte auf handliche Größe schrumpft, während es in der Projektion überlebensgroß werden kann.
Für ihre Fotoserie „Naked Eye“ blättert Erica Baum in gefundenen, billigen Paperbacks wie True Crime Stories oder Biografien von Persönlichkeiten der Populärkultur. Allerdings schlägt sie die Seiten nicht richtig auf, und so verstellt der orangefarbene oder grüne Schnitt der Seitenkanten den Blick auf den Inhalt. Texte und Bilder werden in die Abstraktion vertikaler Streifen fragmentiert. Bei „Jaws“ etwa handelt es sich um die Fotografie eines leicht aufgeblätterten und beschädigten Sachbuchs zum gleichnamigen Film. Auf einer Seite ist ein Schauspieler in einer Schwarz-Weiß-Szene des Films abgebildet. Auf einer anderen werden die Enden der Textzeilen sichtbar. Der türkise Schnitt der vergilbten Seiten bringt eine frische Farbe in das Bild, das auf den ersten Blick wie eine Collage wirkt, wobei man meint, in den Zeilenenden vielleicht ein Gedicht lesen zu können. Pure fotografische Fiktion und Abstraktion.
Weitere Perspektiven zur modernen Drucksache Bild als einem durch das Netz gefährdetem Relikt des 20. Jahrhunderts zeigen Elad Lassry, Anne Collier, Leslie Hewitt, Sara VanDerBeek, Lisa Oppenheim, Moyra Davey, Kathrin Sonntag und Erin Shirreff mit dem Mittel der Diaprojektion, des Videos, der Fotoinstallation und Fotoskulptur. Jede Position ist es wert, studiert und nicht nur überflogen zu werden.
Bis 30. August, Deutsche Bank KunstHalle, Unter den Linden 13–15, tägl. 10–20 Uhr. Katalog (englisch/deutsch) 29 Euro
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