Missbraucht? Dumm gelaufen

RAPE CULTURE An einer Schule wird Mädchen das Tragen von Hotpants verboten. Dahinter steckt eine uralte Rhetorik: Wer „aufreizt“, provoziert sexualisierte Gewalt

Neuer Sommertrend: der Nicht-Aufreiz-Style Foto: Conny Marshaus/getty images

von Margarete Stokowski

Die Hitze kann einen ganz fertig machen. Oder nachdenklich. In Horb am Neckar hat die Schulleiterin einer Werkrealschule am Freitag einen Brief an die Eltern der SchülerInnen geschickt: „Sehr geehrte Eltern, in letzter Zeit müssen wir gehäuft feststellen, dass Mädchen der Werkrealschule sehr aufreizend gekleidet sind. Diese Entwicklung stimmt uns nachdenklich und wir haben entschlossen, dass wir an unserer Schule keine aufreizende Kleidung dulden wollen.“ Die Schule werde, bis eine eigene Kleiderordnung gefunden ist, große T-Shirts an die betroffenen SchülerInnen verteilen, die diese bis zum Schultagsende tragen müssen.

Es gehe dabei, so die Schulleiterin Bianca Brissaud, „nicht um die Unterdrückung der Individualität Ihres Kindes“. Vielmehr wolle sie „damit ein kleines Stück zu einem gesunden Schulklima beitragen, in dem sich alle wohlfühlen und in dem gesellschaftliche und soziale Werte gelebt und gefördert werden“, wie sie dem Schwarzwälder Boten erklärte.

Ja, aber warum? Und was für Werte sind das, die da so dringend gelebt und gefördert werden sollen?

Die Erklärung liefert die Schulleitung in ihrer Wortwahl: Hotpants und bauchfreie T-Shirts seien „aufreizend“. Wird nicht weiter erläutert, heißt aber: Die knappen Klamotten könnten jemanden reizen, etwas zu tun. Hinzugucken. Hinzugreifen. Die Werte, die hier vertreten werden, heißen: Rape Culture und Victim Blaming. Es geht nicht um den Stoff, es geht um Schuld, um Kontrolle und Autonomie.

Victim Blaming

Eigentlich dürfen SchülerInnen in öffentlich Schulen anziehen, was sie wollen. Es gibt keine Kleiderordnung. „Gefährdeten Hotpants allerdings den Schulfrieden – sprich: schauen die Jungs eher auf die Beine der Mädchen denn an die Tafel –, darf die Schule eingreifen“, schreibt der Schwarzwälder Bote. Warum müssen wir jetzt aber gleich von Vergewaltigung reden? Was haben diese kleinen, freundlichen Hinweise, die die SchülerInnen doch nur schützen sollen, mit Rape Culture zu tun? Warum Victim Blaming?

Weil davon ausgegangen wird, dass Mädchen, die sich zu knapp kleiden, das Problem sind: Wenn Jungs oder Lehrer von Mädchen abgelenkt werden, müssen die Mädchen sich etwas anziehen. Wie wenn Frauenkörper etwas sind, das versteckt werden muss, damit nichts Schreckliches passiert. Weil – und das ist ebenso sexistisch – davon ausgegangen wird, dass Männer sich dann nicht mehr unter Kontrolle halten können.

Es ist genau dieselbe Rhetorik, die angewandt wird, wenn Frauen belästigt oder vergewaltigt wurden, und dann hören müssen: Du hättest etwas anderen anziehen/ dein Getränk nicht stehen lassen/ diesen Weg nicht langlaufen sollen. Diese Art von Schuldumkehr nennt sich Victim Blaming: Das Opfer wird beschuldigt, an einer Tat selbst schuld zu sein. Victim Blaming wiederum gehört in den größeren Zusammenhang von Rape Culture: eine Kultur, in der davon ausgegangen wird, dass sexualisierte Gewalt etwas ist, was eben passiert.

Übergriffe sind dann etwas, was einzelne Opfer hinnehmen müssen, wenn sie sich nicht hinreichend verteidigt haben. Das ist dann dumm gelaufen. Dass es immer wieder dieselben Muster sind, nach denen Grenzen überschritten und Machtstrukturen ausgenutzt werden, kann man ignorieren, wenn man die Schuld den Opfern gibt.

Das Opfer wird ­beschuldigt, an einer Tat selbst schuld zu sein

Ab in den Sack

Natürlich ist es komplizierter, Jungs und Männern zu erklären, wie sie sich verhalten sollten, als Frauen einen Sack überzustülpen. Es gibt keine einfache und schnelle Lösung für das Problem. Das „Culture“ in „Rape Culture“ beschreibt eben eine ganze Kultur, und die beruht unter anderem auf sehr tief verwurzelten Ansichten darüber, was Frauen in der Öffentlichkeit alles tun und lassen sollten. Die völlige Selbstverständlichkeit, mit der Männer am Strand oben ohne rumlaufen und Frauen nicht, ist nur ein Beispiel. Eine Gesellschaft, in der nackte Frauen in der Werbung einerseits Aufmerksamkeit auf Produkte ziehen sollen und in der Frauen im Alltag andererseits aufpassen sollen, nicht „aufzureizen“, hat ein sehr grundsätzliches Problem.

Sicher ist: Wenn Jungs im Unterricht nicht mehr auf die Tafel schauen, sondern auf den Bauchnabel des Mädchens neben ihnen, dann ist jede Lösung, die sich nur um den Bauchnabel kümmert, und nicht um den Jungen, eine schlechte.

Im schlimmsten – aber nicht unwahrscheinlichen – Fall führt sie dazu, dass Mädchen sich, wenn ihnen etwas Unangenehmes passiert, nicht trauen, es zu erzählen – weil sie denken, sie seien selber Schuld.