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Aufstieg Die Hälfte der deutschen Kinder ist noch nie auf einen Baum geklettert. Vielleicht haben sie den Kontakt zur Natur verloren. Vielleicht sind die Eltern zu ängstlich. Eine Suche zwischen Blättern und Ästen, Baumhäusern und SeilgärtenHat da was geknackt?

Anna, dreieinhalb, in ihrem Baumhaus. Die Treppe nach oben hat kein Geländer, der Opa hatte schlaflose Nächte deswegen Foto: Jörg Koopmann

von Daniel Kastner

Anna wäre jetzt bereit für die Besichtigung. Sie springt vom Schoß ihrer Mutter, zieht sie an der Hand hinter sich her ans Ende der Gartenparzelle und stapft die Treppe hinauf zu ihrem nagelneuen Haus, das sich auf Stelzen in anderthalb Meter Höhe an einen jungen Ahorn schmiegt.

Die kleine Treppe ließ ihren Opa zwei Tage nicht schlafen, weil sie kein Geländer hat.

Die Terrasse hat kein Dach. „Aber ein Blätterdach“, sagt die Mutter. Anna ist dreieinhalb, sie findet das Wort „Blätterdach“ zum Totlachen.

Das Wohn-, Schlaf- und Spielzimmer riecht nach frischem Holz, es ist hoch genug, dass darin ein Erwachsener aufrecht stehen kann. Durch ein Kippfenster im Dach kann Anna den Himmel sehen, durch Bullaugen mit Plexi­glas­scheiben die Eichhörnchen beobachten. Durch die Spalten in den Bodendielen schaffen es auch Insekten und Spinnen nach drinnen.

Das ist so gewollt. Natur in kleinen Dosen.

So viel wie halt möglich ist in dieser Reihenhaussiedlung im Münchner Osten, die am Rande jeder anderen deutschen Großstadt liegen könnte, wo vorne die Hecken gepflegt werden und hinten Jägerzäune die Gärten voneinander trennen, wo die nahe Autobahn rauscht, wo der Nachbar in Hörweite sitzt und mitten im Gespräch den Rasenmäher anwirft.

Und wo Eltern den Baumhaus-Profi kommen lassen, der eine Bauzeichnung mitbringt, Fundamente gießt, vorgefertigte Wände hinstellt, Fenster einbaut und Kabel verlegt.

Jetzt könnte man sagen: Lieber ein bisschen akkurate, eingehegte Vorstadtnatur als gar keine. Kinder, die in der Stadt aufwachsen, in Hochhäusern, an Schnellstraßen, in naturfernen Familien, kennen den Wald vielleicht nur vom Hörensagen.

Tatsächlich steht in Studien regelmäßig, dass Kinder heute weniger mit der Natur zu tun haben als früher. Der Aktionsradius rund um das Elternhaus, schrieb ein US-Forscher schon Anfang der neunziger Jahre, sei innerhalb von 20 Jahren auf ein Neuntel geschrumpft.

Anfang des Jahres schrieb die FAZ in ihrer Internetausgabe „Eltern zu ängstlich: Viele Kinder sind noch nie auf einen Baum geklettert“ und berief sich auf eine Umfrage im Auftrag der Deutschen Wildtier-Stiftung. 49 Prozent aller Vier- bis Zwölfjährigen seien demnach noch nie allein auf einen Baum geklettert, 53 Prozent der Eltern würden ihren Kindern gar verbieten, ohne Erwachsene im Wald zu spielen. Die Hälfte der Kinder, so beobachtet man im Naturschutz- und Jugendzentrum im oberbayerischen Wartaweil, denken gar, klettern auf Bäume sei verboten.

Michael Miersch ist Geschäftsführer des Forums Bildung Natur, der Bildungsabteilung der Stiftung. Miersch geht auf die 60 zu, er hat Tierfilme gedreht und auch mal für die taz geschrieben, zuletzt aber vor allem für konservative Medien wie das Blog „Die Achse des Guten“.

Er hat die Umfrage vorgestellt und beobachtet „eine gewisse Ängstlichkeit“, die im letzten halben Jahrhundert zugenommen habe. Nicht nur bei den Eltern.

Rückblickend fühlt er sich selbst etwas überbeschützt als Kind. In den Kindergarten hat seine Mutter ihn nicht gelassen. Doch er durfte alleine und mit den Kumpels in den Wald gehen. „Hauptsache, man war zum Abendessen zu Hause.“

Aber sind früher wirklich alle ständig auf Bäume geklettert? Man sagt ja auch: „früher, als wir noch auf Bäume geklettert sind und in Höhlen gelebt haben“, wenn man die eigene zivilisatorische Überlegenheit gegenüber Affen und Neandertalern feiern will. Ist es nicht ein Fortschritt, dass wir das nicht mehr tun? Muss man auf einen Baum geklettert sein?

Es ist ja nicht so, dass es keine Bäume mehr gäbe. Im Gegenteil, seit dem Zweiten Weltkrieg gibt es immer mehr Bäume in Deutschland. Auf einem Drittel der Landesfläche stehen heute Bäume, etwa 90 Milliarden sollen es sein. Doch mit zunehmender Verstädterung nimmt der gefühlte Abstand des Menschen zum Forst, zur Natur zu.

Johannes Schelle und Uwe Wöckener gehören zu der Handvoll Menschen in Deutschland, die von Kindern leben, die auf Bäume klettern. Sie bauen professionelle Baumhäuser.

Schelle ist 40, Bautechniker und Zimmerermeister und beschäftigt bei seiner Firma „Baumbaron“ am Tegernsee zwei Angestellte und einen Azubi. Er hat auch Annas Haus in den Garten in München gestellt.

Wöckener, 53, dessen Gesicht zu gleichen Teilen an Peter Lustig und Captain Picard von Raumschiff Enterprise erinnert,betreibt die Firma „Baumleben“ in Hameln.

Schelle baut seine Baumhäuser oft auf Stelzen, Wöckener legt meist Stahlringe um den Stamm, auf denen das Tragwerk aus Fichtenholz aufliegt. Sie stellen sehr ähnliche Diagnosen, wenn es um die verlorene Naturnähe von Kindern geht.

„Kinder spielen heute mit Konsole, Gameboy und dem Smartphone der Eltern“, sagt Schelle.

„In den Siebzigern haben ARD und ZDF erst ab 17 Uhr gesendet“, sagt Wöckener. „Wir sind nach der Schule vor die Tür gegangen und trafen unsere Freunde.“

Gesicherter Nervenkitzel im Hochseilgarten im rheinländischen Velbert-Langenberg. „Es haben schon einige hinterher den Boden geküsst“, sagt der Guide Foto: Waldkletterpark Velbert-Langenberg

„Im Handy-Zeitalter vergeht keine halbe Stunde, ohne dass die Eltern wüssten, wo ihre Kinder sind“, sagt Schelle.

„Wir leben in einer Vollkasko-Gesellschaft, die alle Risiken ausschließen will“, sagt Wöckener.

„Als ich selbst noch ein Kind war, hieß es bloß: ‚Hauptsache, du bist zum Abendessen daheim‘“, sagt Schelle.

„Die Angst der Eltern überträgt sich auf die Kinder. Das ist hinderlich“, sagt Wöckener und dreht sich eine Kippe aus Tabak der Marke Van Nelle.

„Drei, vier Meter über dem Boden ändert sich die Perspektive“, sagt Schelle. „Das ist so ähnlich wie beim Segeln. Kaum ist man etwas weg vom Ort der Probleme, wirkt alles leichter.“

Digitalisierung der Kindheit. Helikoptereltern. Vollkasko-Gesellschaft. Oft schon habe ich diese Gedanken gehört. Vielleicht zu oft. Doch Schelle bringt mich auf eine Idee.

Zeit für einen Perspektivenwechsel, für den Blick von oben. Ich muss nachdenken. Selber rauf auf einen Baum. Ich, der als Kind nie geklettert ist.

Nicht jeder Baum eignet sich zum Klettern, das lerne ich schnell. Birken wirken schwachbrüstig, Fichten bilden keine brauchbaren Kronen aus. Die Entscheidung fällt für eine Eiche, am Rothsee in Franken. Weit ausladend, Jahrzehnte alt, exponiert auf einer Wiese, ohne lästiges Gestrüpp drumherum, der Stamm teilt sich schon in Brusthöhe das erste Mal – ideal für den Einstieg.

Ein Ast in Kopfhöhe dient als Griff für den Klimmzug in die erste Gabelung. Hält er? Hat da was geknackt? Ist der Untergrund weich? Was hatte die Kollegin noch von Querschnittslähmung erzählt? Was stand in der Zeitung über Zecken und Eichenprozessionsspinner? Kein Kind würde sich diese Gedanken machen.

Die Höhenluft befreit. Schon knapp zwei Meter über dem Boden lösen sich die Bedenken in Luft auf. Ein Fuß senkrecht an den Stamm: hält. Auf in die zweite Ast­gabel und rittlings draufgesetzt.

Rumhängen, Zeit ohne Plan verbringen. Vielleicht ist es dann erst mal langweilig. Und: Vielleicht ist dies Rumhängen uns gänzlich unbekannt geworden, aus der Mode gekommen, weil wir unsere Leben mit Aktion füllen wollen, mit Verwertbarem.

Vom Nachbarast schaut eine Amsel rüber, wie eine Verbündete. Es ist kühler hier als am Boden, beim kleinsten Windhauch rascheln die Blätter, flimmert das Licht.

Wie viel Zeit das bundesdeutsche Durchschnittskind noch in den Achtzigern am Nachmittag hatte: Die Schule war um eins aus. Mittagessen. Dann raus. Die Schule war aber auch mittags aus, weil die bundesdeutsche Durchschnittsmutter zu Hause war. Und nun erzählen Stadteltern mit Stadtkindern: Es sei wirklich nicht einfach, seine Kinder rauszuschicken. Es gebe ja nur so wenige Kinder und man wisse dann einfach nicht, ob das Kind dann auch andere Kinder treffen würde. Da draußen. Die Rumhängmöglichkeiten werden immer weniger. Und die besten Freunde der Kinder die Eltern.

Und weil Eltern im Durchschnitt weniger Kinder haben, werden diese Kinder mehr wert, ein Projekt, das zu gelingen hat.

Neben mir zittern die Blätter der Eiche. Gelingen.

Vielleicht muss alles gelingen? Eine Gesellschaft, in der Erfolg das gängige Prinzip ist. Die glatte Oberfläche. In der Scheitern nicht gewünscht ist. Nicht geübt wird. Eine Gesellschaft, in der das Durchschnittskind unter elter­licher oder pädagogischer Beobachtung steht. Wie gut scheitert es sich unter Beobachtung?

Meine Hand hat die Rinde noch nicht ganz erreicht, da fliegen Schnaken und Käfer auf. Es wimmelt auf dem Stamm: Ameisen, Spinnen, kleine Wanzen. Die Borke ist zerklüftet, fast scharfkantig, grau mit grünem Schimmer, überraschend kühl. Sie bröselt unter der Hand.

Wenn wir davon ausgehen, dass Eltern in der Regel ihre Kinder ­unterstützen, ihnen das beibringen, was sie als relevant für ihre Kinder betrachten, heißt das dann, dass Eltern, also Erwachsene, also wir, klettern nicht wichtig nehmen?

„Erziehung ist Beispiel und Liebe, sonst nichts“, hat der Pädagoge Friedrich Fröbel einmal gesagt. Wo sehen Kinder Menschen, die auf Bäume klettern, Bretterbuden bauen? Wenn Kinder durch Nachahmen lernen – wo sind dann ihre Vorbilder?

Anna schaut durch das Bullauge in ihrem Haus. „Der Kindheitstraum der Eltern schwingt fast immer mit“, sagt der Baumhausbauer Foto: Jörg Koopmann

Die Geräusche von unten klingen gedämpft. Ein Hund bellt, ein Kind beweint seinen runtergefallenen Schokoriegel, eine Mutter motzt, ein Teenager sucht seine Kumpels. Sie schauen nicht herauf, fühlen sich unbeobachtet. Es ist wie der Blick in ein Terrarium. Ein unwirkliches Gefühl stellt sich ein. Ist das – Macht? Überlegenheit?

Er suchte einen Profi und fand einen Schotten

„Es steckt anscheinend im Menschen, dass der Baum ein anderer, ein sicherer Ort ist“, sagt Uwe Wöckener, der Baumhausbauer. Das Klettern auf Bäume hat für ihn „etwas Archaisches“.

Es war eine von Wöckeners vier Töchtern, die vor zehn Jahren den Grundstein für seine heutige Firma legte, als sie sich ein Baumhaus im Garten wünschte. Hütten bauen, das hatte Wöckener schon mit Anfang 20 beim Bundesgrenzschutz gelernt, als sie an der innerdeutschen Grenze im Harz Brücken und Aussichtsplattformen errichteten.

Zusammen mit seiner Tochter legte er Bretter in einen Baum, „und als sie ein Dach forderte, sagte ich: Okay, jetzt machen wir es richtig.“ Er suchte Profis und fand keine, „nur einen Schotten“. Der war eigentlich Produktdesigner, aber „mit absolutem Herzblut dabei“, sagt Wöckener. Irgendwann bekam er ihn ans Telefon, flog nach Edinburgh und machte in Ayrshire vier Wochen Praktikum, „eine der besten Erfahrungen meines Lebens“.

Er übersetzte das Gelernte in ein Baumhaus. An eine eigene Firma dachte er da noch nicht – bis der Postbote sagte, er wolle auch so was. Da entwickelten Wöckener und ein befreundeter Tischler die Webpräsenz „baumleben.org“. Zehn Tage später kam der erste Auftrag.

Kollege Johannes Schelle, der „Baumbaron“, hat schon als Kind „ein paar Brettl“ an Bäume ge­nagelt. Mit seinem Baumhaus schuf er einen Ort, wo seine beiden älteren Schwestern nicht hinkamen, einen Ort, den er allein beherrschte. Er musste nur die Strickleiter hochziehen.

Nach seiner Ausbildung stieg er in die Baufirma seiner Eltern ein. Zum Spaß baute er damals ein professionelles Baumhaus, mit geraden Wänden und einem Dach, durch das es nicht reinregnen konnte. Ein Bild davon stellte er auf seine Webseite. Nichts geschah.

Dann rief ihn jemand an, der das Bild im Netz gesehen hatte. „Deine Homepage ist furchtbar“, sagte der Anrufer, „aber das ­Baumhaus ist toll. Kannst du mir eins bauen?“ Schelle konnte. Vom Erlös überarbeitete er seine Webseite. Dann kündigte er bei seinen Eltern und gründete den „Baumbaron“.

Den Namen hat er sich abgeschaut bei Italo Calvino. Dessen Roman „Der Baron auf den Bäumen“ gehört in Italiens Schulen zur Pflichtlektüre. Cosimo, Spross eines genuesischen Adelsgeschlechts, klettert im Garten auf eine Steineiche – und kommt nie mehr herunter. „So klomm er den knorrigen Baum empor“, schreibt Calvino, „und bewegte Beine und Arme zwischen den Zweigen mit einer Sicherheit und Behändigkeit, die sich durch unsere lange gemeinsame Übung erklärte.“

Cosimo und sein Bruder klettern nicht hinauf, um Früchte oder Vogelnester zu suchen. Ihr Aufstieg folgt keinem Zweck, sie haben einfach „Gefallen an der Überwindung schwieriger Ausbuchtungen und Gabelungen des Stammes“ gefunden. Sie wollen möglichst hoch hinauf gelangen und schöne Plätze erkunden, „auf denen wir verweilen konnten, um die Welt da drunten zu betrachten und den dort vorübergehenden irgendwelche Scherze und Ausdrücke zuzurufen.“

Anruf bei Armin Lude, 47, Professor am Lehrstuhl für Biologie an der Pädagogischen Hochschule in Ludwigsburg. Lude ist da vor allem zuständig für Umweltbildung und Waldpädagogik.

„Wenn sie auf Bäume klettern, überschreiten die Kinder Grenzen“, sagt Lude. Das Erfolgserlebnis stärke ihr Selbstbewusstsein. „Überängstliche Eltern senden ihren Kindern durch ein Verbot auch die Botschaft: Das schaffst du nicht. Und ängstliche Eltern bringen ängstliche Kinder hervor.“

Lude empfiehlt Eltern, erst mal zusammen mit ihren Kindern auf einen Baum zu klettern und ihnen zu erklären, welcher Ast zu dünn ist oder wo man sich gut festhalten kann. „Scaffolding“ nennen Pädagogen das, Gerüst­bau. Das Gute an Gerüsten ist: Man kann sie Stück für Stück wieder abbauen.

Velbert-Langenberg im Rheinischen. Nils Labude, 27, schmale Augen, drahtige Figur, ist Guide beim Hochseilgarten „Wald-Abenteuer“. Er hat Sportwissenschaften mit Management-Schwerpunkt studiert. Er hat eine Allgemeine Höhenretter-Ausbildung gemacht, in einem Wochenendkurs für knapp 600 Euro.

Hochseilgarten, Baumhäuser: Substitute zum Baumklettern. Gesicherter Nervenkitzel.

Wenn Nils einen Kunden in die Ausrüstung einweist, will er „Materialvertrauen“ erzeugen. „Das ist ja so ein Gesellschaftsthema, dass alles sicher sein muss.“ Der Kunde soll spüren: Er kann sich richtig in den Gurt reinsetzen, alles ist sicher, alles hält.

„Runtergefallen ist noch keiner“, sagt Nils. Das ist auch unmöglich, weil die Gäste durchgehend mit dem Karabinerhaken gesichert sind. Zwischendurch ausklinken kann man sich nicht.

Meist sieht Nils schon bei der Einweisung, wer den Parcours nicht durchhalten wird. Er weiß aber auch: 90 Prozent der Ängstlichen probieren es trotzdem aus. „Es haben schon einige hinterher den Boden geküsst“, sagt er. „Das Glücksgefühl ist da.“

Für Notfälle hat jeder Gast eine Pfeife dabei. „Manche übernehmen sich, die hängen dann da und es geht gar nichts mehr“, sagt er. Dann nimmt Nils den Not-Rucksack und rettet.

Am Kinderparcours im Hochseilgarten weist Nils’ Kollegin Fine, eine Zweimeterfrau mit Perlenohrringen, gerade eine Kindergruppe ein. Neun Mädchen und Jungen stehen brav in einer Reihe. Jedes Kind ist mit einem Karabinerhaken am Leitseil festgemacht, jedes trägt einen Gurt und einen Helm mit einem Wegwerftuch darunter – wegen der Hygiene.

„Nicht an den Stahlseilen festhalten“, schärft Fine ihnen ein. Die Kinder müssen über Holzbretter und Seile balancieren, über hängende Baumstämme laufen, durch eine Röhre krabbeln, in zehn bis zwölf Meter Höhe.

Joris geht voraus, ein Junge mit stahlblauen Augen. Er scheint gar nicht runterzugucken. Es schwankt, es wackelt, Joris stapft unbeirrt voran. Ihm folgt ein zweiter Junge, dann mehrere Mädchen. Bis zu einem Steg aus Brettern geht alles gut, dann fließen die ersten Tränen. Eines der Mädchen traut sich nicht weiter und schreit: „Weißt du, wie gefährlich das ist?“ Fine klettert rüber; behutsam, aber bestimmt erklärt sie dem Kind noch einmal, dass es nicht abstürzen kann. Zögernd setzt es sich in Bewegung. Doch Kollege Nils ist sich sicher: „Kinder haben definitiv weniger Höhenangst, da sind die Eltern oft überrascht.“ Früher seien die Wälder hier voll von Kindern gewesen. Er war selbst dabei, ist auf Bäume geklettert und hat Baumbuden gebaut.

Nils’ Cousin Moritz , 17, möchte sich in den Schulferien etwas dazuverdienen. Er steht oben bei Fine und den Kindern. Es weht und regnet, Moritz’Wangen sind gerötet, er hüpft von einem Bein auf das andere, um sich warmzuhalten.

Natürlich hatte er ein Baumhaus als Kind. „Wir haben im Wald eine Europalette in eine Baumkrone gehievt, Hammer und Nägel hatte ich aus der Werkzeugkiste meines Vaters.“ Die Plane, die sie drüberzogen, war schon am nächsten Tag wieder weggeweht. „Aber es war aufregend, so etwas zu haben.“

Auch er, der 17-Jährige, noch nicht erwachsen, hat den Eindruck, dass Kinder gar nicht mehr in den Wald gehen. „Die haben heute ja schon mit 5 ein Handy. Ich habe mein erstes mit 12 bekommen.“ Er durfte so viel draußen sein, wie er wollte. Seine Eltern hätten ihm immer nur gesagt, wann er zum Abendessen zu Hause sein sollte.

Da sagt der 17-jährige Moritz jetzt dasselbe wie der 40 Jahre ältere Michael Miersch von der Wildtier- Stiftung und Schelle, der Baumhausbauer. Kann es sein, dass jede Generation denkt, die eigene sei die letzte gewesen, die noch auf Bäume geklettert ist?

„Da gibt es vielleicht ein Narrativ“, sagt Michael Miersch. „Man hört das immer wieder und erzählt es irgendwann selbst.“

Vollkasko. Helikopter. Digitalisierung.

Am anderen Ende der Skype-­Leitung sitzen jetzt Flo, 27, und Tommy, 26. Flo heißt richtig Florian Asché und ist gerade fertig geworden mit seinem Studium in Medienrecht. Sein Kumpel Tommy alias Thomas Dietzel promoviert in Chemie.

Zusammen mit drei weiteren Freunden bespielen sie den „Lets­Play“-Kanal „Slay­massive“ auf YouTube. „LetsPlays“ sind die erfolgreichsten Formate auf dem Videoportal, Millionen Zuschauer gucken Computerspielern beim Computerspielen zu.

Zum Beispiel bei „Minecraft“.

Das Spiel mit der schlichten Grafik stammt aus Schweden. Der Spieler findet eine leere, aber gestaltbare dreidimensionale Welt vor und kann Getreide an-, Rohstoffe ab- und Städte aufbauen. Und eben auch: Baumhäuser bauen. „Es ist wie ein Zimmer mit einem Endlosvorrat an Lego“, sagt Flo.

Sie sinnieren über die Frage, ob „Minecraft“ das echte Baumklettern in den virtuellen Raum saugt. Und ob man digitale Baumhäuser bauen kann, ohne zu wissen, wie sich ein echtes anfühlt.

Sie leben in Köln, stammen aus Usingen im Taunus – und hatten als Kinder auch Baumhäuser im Wald. Manche konnte man nur mit einem Seil erreichen, „unser krassestes hatte zwei Stockwerke“, erzählt Flo.

Top 5: Songs über Bäume

1. Bob Dylan & Joan Baez – In The Pines:Nirvana, Bill Monroe, Lead Belly, alle haben ihre eigene Version des Klassikers aus dem 19. Jahrhundert, der die wichtigste aller Fragen stellt: „Where did you sleep last night?“

2. Billie Holiday – Strange ­Fruits:Die seltsamen Früchte, von denen Billie Holiday 1939 sang, baumelten an Bäumen im Süden der USA. Gemeint waren gelynchte Schwarze. Heute gilt das Protestlied als ein Ausgangspunkt der Bürgerrechtsbewegung.

3. Blumfeld – Ich-Maschine:Auf Jochen Distelmeyer, Kopf der Hamburger Band Blumfeld, warten sogar die Bäume, damit er endlich auf sie klettert: „[Der] Garten, in dem die Apfelbäume warten, auf die ich kletterte, mich vor Erdanziehung rettete.“

4. Kendrick Lamar – Money Trees:Ist es legitim, die eigenen Moralvorstellungen zu verdrängen, um seinen Traum vom Reichtum, vom Platz unter den „Money Trees“ zu verfolgen? Diesem Zwiespalt sah sich Rap-Star Kendrick Lamar früh ausgesetzt.

5. Fools Garden – Lemon Tree:Auch wenn Sänger Peter Freudenthaler selbst nicht genau weiß, warum er 1995 einen Zitronenbaum besungen hat: Deutsche Schüler müssen es heute im Musikunterricht singen.

Bei „Minecraft“ haben sie schon eine ganze Stadt in die Bäume gestellt. Es gibt eine Bibliothek und ein Parlament, sie züchten Kräuter und Pilze, Loren fahren Güter hin und her, sogar Zeppeline können dort landen.

Was sie bauen, stimmen sie mit den Zuschauern ab. Gut 100.000 Leute haben den Kanal abonniert und bekommen so regelmäßig mit, was die Jungs täglich posten.

Die Community ist sehr streng: Wenn ein Baumhaus rein statisch nicht im Baum stehen kann oder ein Ast komplett falsch wächst, hagelt es Kommentare: „Unrealistisch!“

Viele Steine in „Minecraft“, wenige Bretter auf Brachen

Weil die Zuschauer das wissen, glaubt Flo nicht, dass sie Baumhäuser nur vom PC kennen. Was aber auch die „Slay­mas­sive“-­Jungs glauben: Kinder spielen heute seltener draußen als früher. „Wir sind die Generation, bei der der PC erst aufkam.“ Wenn sie mal eigene Kinder haben, wollen sie die auch rausschicken in den Wald.

Befreiende Höhenluft

„Drei, vier Meter über dem Boden ändert sich die Perspektive. Kaum ist man etwas weg vom Ort der Probleme, wirkt alles leichter“

„Minecraft“. Der Endlosvorrat an Lego. Vielleicht liegt zu wenig rum im Deutschland des Jahres 2015. Vielleicht ist es eine fertigere Gesellschaft mit viel weniger Latten und Kisten und Schrott, mit weniger Zeug, das niemandem gehört und das Kinder sich einfach so nehmen. Zumindest gibt es deutlich weniger genehmigte Baustellen, als noch in den achtziger Jahren.

Vielleicht gibt es auch weniger handwerklich begabte Eltern? Die es gewohnt sind, körperlich zu sein, robust, anzupacken. Die Kratzer, Schnittwunden und blaue Flecken kennen.

„Früher konnte man sich beim kleinen Sägewerk um die Ecke ein paar Bretter zuschneiden lassen“, hatte Schelle erzählt.

„Die Städte sind so aufgeräumt heute“, sagt Wöckener.

„Heute gibt es fast nur noch Baumärkte“, meint Schelle.

Drei Tipps für Eltern

Keine Angst erzeugen:Eltern sollten ihrem Kind zutrauen, dass es klettern kann, und es nicht unter Druck setzen.

Möglichkeiten schaffen:Auch im Haus kann und soll geklettert werden. Mit einer selbst errichteten Kletterlandschaft aus Sofa, Leiter und Matratze können Kinder das spielerisch lernen.

Barfuß sein:Wer barfuß klettert, hat einen direkten Kontakt mit der Kletteroberfläche. Besonders im Freien ist das ein schönes Erlebnis. Natürlich nur, wenn es die Witterung zulässt.

Mehr dazu:Auf taz.de/klettern lesen Sie das Interview mit der Kleinkind- und Kletterexpertin Franziska Schmidt.

„Es lag mehr herum, die Kids haben selbst aus Müll noch was gebaut“, sagt Wöckener.

Wöckner selbst klettert gerade durch einen Kirschbaum in Hameln. Schiebt Laub vom Dach eines Baumhauses und kann es kaum glauben. „Normalerweise ist das Dach das Erste, was repariert werden muss.“ Aber das hier: einwandfrei. Nicht schlecht für ein 700-Kilo-Haus, das acht Jahre auf dem Buckel hat und schon bei leichtem Wind sacht schwankt und knarzt. Drei bis vier Meter sind die Idealhöhe. „Weiter oben fühlt der Kunde sich schnell unwohl.“

Unter den Bodendielen dagegen stößt Wöckener auf faules, morsches Holz. Auch das Geländer wackelt bedenklich. „Wenn sich einer im Überschwang dagegen wirft, dann liegt er unten“, sagt er. Spätestens im Herbst will er die tragenden Balken austauschen.

Mit Akkuschrauber, Kuhfuß und einer japanischen Zugsäge lockert er jetzt die Stahlringe ein wenig. Die wachsen nämlich langsam in den Stamm ein, die alte Kirsche wölbt schon ihre Rinde drüber.

Der Kunde hatte das Baumhaus mitsamt Wendeltreppe einst für seine Tochter bestellt. Die ist inzwischen ausgezogen, die Eltern spielen da oben jetzt Doppelkopf mit den Nachbarn.

„Der Kindheitstraum schwingt fast immer mit“, sagt Wöckener. „Manche Kunden bestellen ein Baumhaus für ihre Kinder – und im persönlichen Gespräch stellt sich das dann als Vorwand heraus.“

Johannes Schelle, „der Baumbaron“, kennt das auch: Wenn er die Pläne zeichnet, sieht er bei den Eltern „das Flackern in den Augen“. Manchmal planen sie dann das Haus spontan größer, mit Terrasse oder Balkon, damit die ganze Familie darin zu Abend essen kann.

Mit dem Abenteuer Baumklettern haben Baumhaus und Hochseilgarten nicht mehr viel zu tun. Aber mit der Sehnsucht danach. Der Sehnsucht nach der eigenen Kindheit, der Unbeschwertheit, den freien Gedanken, dem freien Blick. Vielleicht auch der Sehnsucht nach etwas, das es nie gab.

Daniel Kastner, 36, ist Autor der taz.am wochenende. Er hat in Velbert den „Dachs-Parcours“ ausprobiert – und sich meistens ans Stahlseil gekrallt

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