piwik no script img

Chinas Staatsfeind

Nach einer längeren Rückenleidenszeit spielt Timo Boll nun in der Form seines Lebens. Das macht ihn nicht nur bei den heute beginnenden German Open in Magdeburg zum Top-Favoriten

VON HARTMUT METZ

Timo Boll habe sich zu „Chinas Staatsfeind Nummer eins“ aufgeschwungen, ulkte erst kürzlich Steffen Fetzner, der neue Vizepräsident des Deutschen Tischtennis-Bundes, in einer Glückwunsch-SMS. Weit ernster als der ehemalige Doppel-Weltmeister brachte es sogar Liu Guoliang nach dem Weltcup-Sieg des Hessen auf den Punkt. „Boll ist nicht mehr nur eine Gefahr für uns: Er ist so gut wie wir“, befand der chinesische Trainer vergangene Woche in Lüttich. Am liebsten würden die sonst so dominierenden Pingpong-Asse aus dem Reich der Mitte den plakativen Vorschlag der Bild-Zeitung umsetzen: „Ti-Mo Boll – Den würden die Chinesen gerne einbürgern“, stand dort in dicken Buchstaben.

Nix da! Der DTTB braucht sein Aushängeschild selbst, derzeit mehr denn je. Nächstes Frühjahr steht in Bremen die Mannschafts-WM an, heute beginnt in Magdeburg die Generalprobe dafür. Bei den German Open kämpfen bis Sonntag rund 400 Spieler aus 48 Nationen um insgesamt 100.000 Dollar Preisgeld, Boll ist im Einzel wie Doppel Titelverteidiger. Bei der Frage nach den diesjährigen Favoriten lässt Jörg Roßkopf, Bolls Mannschaftskamerad beim TTV Gönnern, keinen Zweifel aufkommen: „Boll, Boll und Boll!“ Zwar kassierte der Spitzenspieler des Champions-League-Siegers am Sonntag in der Bundesliga gegen Düsseldorf seine erste Saisonniederlage, doch das 2:3 gegen den WM-Dritten Michael Maze (Dänemark) wertet der Weltranglistenzweite keineswegs als Beinbruch. „Dass ich derzeit besser denn je bin, heißt nicht, dass ich gar kein Spiel mehr verliere“, befand Boll in gewohnter Bescheidenheit.

Dass der 24-Jährige überhaupt wieder eine Chance hat, Weltmeister Wang Liqin als Nummer eins auf dem Globus abzulösen, und beim Weltcup zudem seinen Angstgegner Ma Lin und Wang Hao (alle China) bezwang, verdankt er Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt. Der Wunderdoktor aus München befreite Boll von seinen Schmerzen. Nach jedem Topspin stach es „wie Messer in meinem Rücken. Ich hatte bei jeder Bewegung Angst und mir verging die Lust auf Tischtennis“, erzählt der Doppel-Vizeweltmeister aus seiner Leidenszeit, die ihn sich „wie einen 68-Jährigen fühlen ließ“. Bis zu 30 Spritzen wurden ihm während der Behandlung täglich in den Rücken gejagt. „Das war nicht angenehm“, erzählt Boll, zeigte aber Wirkung: „Seit Januar kann ich mich endlich aufs Tischtennis konzentrieren. Ich habe nur noch ein bisschen Angst bei schnellen Bewegungen.“

Im Sommer konnte Boll erstmals seit langem sechs Wochen ohne Unterbrechung trainieren. „Das war die härteste Saisonvorbereitung meiner Karriere“, sagt Trainingspartner Roßkopf. Der 36-jährige Rekordnationalspieler brachte sich nach einem Formtief wieder für die WM ins Gespräch – und er zog Boll mit. „Ich bin fitter und habe ein paar Schwächen beim Kurz-Kurz-Spiel abgestellt“, analysiert der sein gestiegenes Potenzial. „Beim Aufschlag-Rückschlag ist Timo nicht mehr so einfach auszurechnen. Sein Spiel wurde variabler. Die Chinesen haben es nun noch schwerer, sich auf ihn einzustellen“, fügt Roßkopf an und stellt mit Bewunderung fest: „Er braucht wenig Übung, um etwas zu lernen. In dieser Saison hat Timo mit nur vier Niederlagen in allen Wettbewerben eine unglaubliche Leistung gebracht.“

In Magdeburg könnte Boll daher erneut zweimal ganz vorne landen. Sein Doppelpartner Christian Süß befindet sich ebenfalls in Spiellaune und gewann bisher im zweiten Paarkreuz alle 14 Bundesliga-Duelle für Borussia Düsseldorf. Und im Einzel lassen die Chinesen ihre drei Besten – Wang Liqin, Ma Lin und Wang Hao – zu Hause. So könnte ihr neues Wunderkind Ma Long zum schärfsten Rivalen werden. Schon bei den China Open behielt der 17-Jährige die Oberhand, bevor sich Boll bei den Japan Open revanchierte. Ma Long soll für die Olympischen Spiele 2008 in Peking aufgebaut werden – als Goldkandidat.

Daran denkt Boll auch ein wenig. Nach seinem Weltcup-Triumph krönte ihn sein Gefolge auf dem Heimweg in einem Fast-Food-Restaurant zum König. „Die setzten mir eine Pappkrone auf“, erzählt der Weltranglistenzweite grinsend. Und „König Timo I.“ kann sich durchaus vorstellen, auch Kaiser von China zu werden. Dafür, weiß Boll, bedürfte es noch nicht einmal einer Einbürgerung. Ein Sieg im olympischen Finale würde genügen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen