piwik no script img

Second LifeDer virtuelle Reporter

Die Medien haben "Second Life" entdeckt. Reporter schreiben über Ereignisse in der Parallelwelt. Aber sind Berichte über Cybercoitus und Pixelbrüste Journalismus?

Der virtuelle Reporter

Die Medien berichten nicht nur über "Second Life" - sie spielen längst mit. Reporter schreiben unter Pseudonym über Ereignisse in der Parallelwelt. Aber sind Berichte über Cybercoitus und Pixelbrüste Journalismus?

VON WOLF SCHMIDT

Nicht weniger als der "folgenreichste Weltenerschaffer und Gemeinschaftsstifter seit Moses, Karl Marx und Thomas Jefferson" soll er sein, der "Second Life"-Gründer Philip Rosedale. Das findet zumindest der Spiegel in seiner 13-seitigen Titelgeschichte über die virtuelle Parallelwelt. Auch Die Zeit, die FAZ und die Süddeutsche Zeitung sind der Meinung, dass "Second Life" ein ganz großes Ding ist - sie alle haben dem Thema ausladende Texte und mehrseitige Dossiers gewidmet.

Doch der Hype um "Second Life" hat die Medien nicht nur aufhorchen lassen, sondern auch ihren Spieltrieb geweckt. Sie wollen nicht nur über das Paralleluniversum schreiben, sondern sich auch darin herumtreiben. Und schleusen Reporter in das Spiel ein. Es ist, als habe jemand einem Kind im Sandkasten eine Schaufel zugeworfen.

Spiegel Online hat sich einen eigenen Avatar gebastelt, wie die virtuellen Stellvertreter echter Menschen heißen: "Sponto", ein Cyberpunk mit türkisgrünem Iro, stolpert durch die Parallelwelt, kauft sich in Sexshops Liebeskugeln, probiert Gruppensex aus und philosophiert über Identitätsprobleme: "Virtuelle Welten, das ist jetzt schon klar, sind ein bisschen wie Zeitreise-Geschichten: Ein bisschen Paradoxie bleibt immer übrig."

Dass sich hier hinter jedem Mann eine Frau verbergen, jeder Dünne im echten Leben dick und ein virtueller Rocker in Wirklichkeit ein Bürospießer sein kann, das mag für viele den Reiz des Spiels ausmachen - so auch für die Medien. Denn "Second Life" ist kein Computerspiel im herkömmlichen Sinn. Es ist kein Game mit fest vorgegebenen Zielen, sondern vielmehr ein Play, ein Herumspielen und Ausprobieren um seiner selbst willen.

Am konsequentesten in die virtuelle Welt eingestiegen ist das englischsprachige Boulevardblatt AvaStar, das von Bild.T-Online betrieben wird und einmal wöchentlich in Form eines pdf-Dokuments erscheint. Die Spieler können die Zeitung einfach mitnehmen, bisher noch gratis. Auf lange Sicht soll ein Exemplar 150 Linden-Dollar kosten, wie die Kunstwährung in "Second Life" heißt. Das entspricht 40 ganz realen Eurocent.

Chefredakteur Rowan Barnett (siehe Interview) sitzt im wirklichen Leben mit sechs festen Mitarbeitern in einem engen Büro im Berliner Springer-Hochhaus. Im zweiten Leben heißt er Regis Braathens - und sein Büro ist ein gigantischer Glaspalast.

Wie im wahren Leben die Bild-Zeitung setzt auch der AvaStar auf nackte Haut. In diesem Fall: Pixelbrüste. Die Titelgeschichte der letzten Ausgabe handelte davon, wie man in "Second Life" mit Sexeskapaden Geld verdient. Avatar Natasha Mukerji, blond, schlank, vollbusig, ist eine virtuelle Prostituierte und wird im AvaStar mit den Worten zitiert: "Ich mache es, um wirklich mitspielen zu können." Denn von den Linden-Dollar, die es für ihren "Escort-Service" gibt, kann sich die Spielfigur hübschere Kleider und Accessoires kaufen.

Das klingt zunächst alles ganz amüsant, weil es so schön skurril ist. Aber schon nach wenigen Stunden im zweiten Leben beschleicht einen unweigerlich ein tiefes "Na und?"-Gefühl. Man fragt sich: Wen interessieren computergenerierte Konzernzentralen? Was soll Cybercoitus zwischen 3-D-Figuren? Welche Relevanz haben virtuelle Ereignisse? Und: Sind Berichte darüber noch Journalismus oder schon Dadaismus?

Dass sich die Medien beim Mitspielen bisweilen aufführen wie pubertierende Teenager, hat die Titanic in einem kleinen, aber feinen Satirestück eingefangen. Darin wird der Titanic-Avatar auf den "Totalversaut-Islands" von Journalisten von Zeit, Welt, Bunte und Focus Online zum virtuellen Sex gedrängt.

Auch einigen der Spieler geht das Eindringen von Firmen und Medien in ihre Welt tierisch auf den Wecker. Sie wollen keine brand new world und wenden sich genervt von dem Spiel ab. Erste Kritiker mahnen denn auch, dass der Hype um "Second Life" ganz schnell wieder ein Ende finden könnte. Zwar steigen die Nutzerzahlen zurzeit noch an, nach Schätzungen von Bloggern sind aber höchstens 10 Prozent der rund 3,5 Millionen registrierten Nutzer auch wirklich dauerhaft aktiv. Mehr als 20.000 Avatare sind nur ganz selten gleichzeitig in der Parallelwelt anzutreffen. Es ist wohl wie bei jedem anderen neuen Spielzeug: Eine Zeitlang spannend, aber irgendwann legt man es gelangweilt in die Ecke.

Der Blogger Darren Barefoot hat vor kurzem eine Parodie der Startseite von "Second Life" online gestellt. "Get a first life" heißt es dort. "Go outside. Membership is free."

Vielleicht werden sich auch die Medien nach einer Phase der Aufgeregtheit den Aufruf zu Herzen nehmen. Und wieder im ersten Leben spielen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!