Kolumne: Fairness und Polenfresser

Quadratwurzel hin, Ressentiments her. Bei der aktuellen Aufregung um Warschaus Haltung zur EU-Verfassung ist ein wenig aus dem Blick geraten, worum genau es diesen sturen Polen diesmal geht

Zuerst zur Wurzel. Es ist überhaupt nicht kompliziert. Es geht den polnischen Diplomaten darum, dass man die "doppelte Mehrheit", die in der EU-Verfassung verankert ist, ein wenig modifiziert. Ganz einfach. Wenn die Verfassung in Kraft tritt, müssten bei allen Entscheidungen der EU die Mehrheit der EU-Länder und gleichzeitig auch die Mehrheit der Bevölkerung zustimmen, was effizienter und einfacher wäre als bisher.

Nun wollen auch die Polen eine doppelte Mehrheit, nur mit einer Modifizierung: Man sollte die Quadratwurzel aus der Bevölkerungszahl ziehen. Ein Beispiel: Deutschland hat etwa 80, Polen 40 Millionen Einwohner. Nach der Verfassung läge das Stimmenverhältnis ungefähr bei 2:1. Nach den polnischen Vorschlägen: Deutschland 9 Stimmen, Polen 6.

Die polnische Regierung ist überzeugt: Wenn wir nichts machen, dann werden die großen Länder überproportional stark. Und ein starkes Deutschland bedeutete nie etwas Gutes für Europa - denken die polnischen Verantwortlichen. Die Polen haben diese Ideen nicht erfunden. Die Quadratwurzel basiert auf dem Projekt des Engländers Lionel Penrose. Den Einfluss der Staaten in den internationalen Beziehungen - so Penrose - misst man nicht nach ihrem Stimmanteil, sondern danach, was sie womöglich blockieren können. Nur wenn die Länder ähnliche Chancen haben, um etwas zu blockieren, dann ist die Stimmenverteilung fair. Und die EU-Verfassung sollte doch zwei Grundlagen erfüllen: Fairness und Effizienz. Nizza war fair, aber ineffizient. Die geplante Verfassung ist effizient, aber nicht fair - argumentieren die Warschauer Politiker.

So viel zur Mathematik. Nun zur Politik - sagen mir die deutschen Politiker, Publizisten und Experten, die ich täglich anrufe. Sie wiederholen wie ein Mantra: Polen denkt anachronistisch. Machtverhältnisse sind nicht das Wichtigste in der EU. Vielleicht. Aber die polnischen Politiker sehen das anders. Auch die Realpolitik haben sie nicht erfunden. De Gaulle und seine Nachfolger im Élysée hüteten stets die Privilegien ihrer Bauern. Und was ist mit Maggie Thatcher und dem britischen Rabatt?, fragen die Warschauer Politiker. Ihrer Meinung nach betrieb auch Gerhard Schröder eine solche Politik des nationalen Egoismus sehr gern. Seine Politik, besonders sein Antiamerikanismus, sein Schulterschluss mit Putin und deren gemeinsames Kind, die beiden Ostseepipelines. Das alles hat das Vertrauen Polens in den deutschen Partner erschüttert.

Niemand sagt, dass Schröder ein "Polenfresser" war. Aber mit seiner an nationalen Interessen orientierten Außenpolitik lieferte er den antideutschen Ressentiments in der polnischen Gesellschaft ständig Nahrung. Die Kaczynski-Zwillinge sind im Juni 1949 geboren. Sie stammen aus einer patriotischen Warschauer Familie, wo man die Erinnerung an die Tragödie des Zweiten Weltkrieges pflegte. Dies spiegelt sich nun nicht nur in der Zurückhaltung gegenüber Deutschland wider. Es betrifft auch noch Russen, die gemeinsam mit Hitler Polen gefressen haben. Und Westeuropa auch! In Paris und London jedenfalls wollte doch trotz Versprechungen niemand für Danzig sterben. Die Kaczynski-Zwillinge hatten nie ein besonders großes Interesse an Außenpolitik - ja, vor 1989 hatte Polen überhaupt keine betrieben. Warschau musste es nach der Wende erst lernen.

Zuerst war klar: Nato und EU waren die Leuchttürme, nach denen man strebte, ohne sich groß Gedanken darüber zu machen. Erst nach dem Beitritt kamen die ersten Fragen und Entscheidungen. Mit Washington oder Brüssel in den Irak? Brauchen wir eine Verfassung? Warum kriegen unsere Bauern nur halb so viel Subventionen wie die aus der Provence? Lässt uns der Westen nicht im Stich, wenn Russland den Gashahn zudreht? Das vergangene Jahr war für Warschau ein einziger außenpolitischer Crashtest. Jetzt testen wir die Grenzen der EU. Wurzel oder Tod ist ein Kurs, der einer Mischung aus Misstrauen und Unerfahrenheit entspringt. Hier sind die Kaczynski-Zwillinge in die Sackgasse geraten.

Erst wenn man das alles versteht, darf man die Regierung kritisieren. Und die Kritikpunkte sind klar, knapp, aber stark. Die polnische Regierung hat einen großen diplomatischen Fehler begangen: Warschau hat fast niemanden von seinen Vorschlägen überzeugt. Nur die Tschechen, aber auch das ist nicht sicher. Es wurde zu wenig getan, um die anderen EU-Partner zu überzeugen. Die polnische Regierung hat damit leider eine eklatante Schwäche und Ineffektivität an den Tag gelegt.

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