Kolumne: Vergesst die Lindenstraße!
Eine 24-Stunden-Dokusoap: Ich bin die Else Kling der Boxhagener Straße.
Deutschlands berühmteste Fernsehserie, die "Lindenstraße", lief schon einige Jahre, als ich sie zum ersten Mal sah. Mein Leben nach dem Mauerfall in Westberlin hatte sich so weit normalisiert, dass ich mich ab und an vor den Fernseher setzte, um mir die Welt rein ins Wohnzimmer zu holen. Ich lernte Helga und Hansemann kennen, Benny und Klausi, Else Kling und Egon, Rosi und Hubertchen, die Sarikakis und das "Akropolis", Gabi und das "Café Bayer". Ich nahm an ihrem Leben teil, sah Alte sterben und Junge heranwachsen. Das Lindenstraßenfieber hatte mich gepackt.
Doch seit einiger Zeit bleibt sonntags der Fernseher aus. Die "Lindenstraße", aufgenommen auf einem Studiogelände in Köln-Bocklemünd, langweilt mich. Das wahre Leben spielt in der Boxhagener Straße in Friedrichshain, wo ich seit fünf Jahren wohne. Die Haupt- und Nebenrollen in dieser 24 Stunden-Dokusoap werden von der Hausverwaltung besetzt und sind über das Vorder- und Hinterhaus verteilt. Ich wohne im vierten Stock Hinterhaus und bin so etwas wie die Else Kling der Boxhagener Straße. Liegt die Werbung im Hausflur meterhoch auf dem Boden, hebe ich sie schimpfend auf. Von Natur aus neugierig, weiß ich auch ganz gut Bescheid, wer mit wem warum und überhaupt.
Den größten Zusammenhalt zeigte unser Haus, als ich meine Wohnung an einen pensionierten Lehrer aus Bayern untervermietet hatte. In meiner Abwesenheit kurierte er eine schwere Depression aus. Mehrmals stand er betrunken und verzweifelt vor der Tür meiner Nachbarin. Mit der größten Selbstverständlichkeit kümmerte sie sich um den Kranken. Zusammen mit ihrem peruanischen Mann und einem deutsch-amerikanischen Paar aus dem Vorderhaus hielten sie abwechselnd Wache an seinem Bett. Mit einem opulenten Essen bedankte ich mich für die Nachbarschaftshilfe.
Neulich brauchte ich zwei Eier. "Hast du Eier?", fragte ich den Peruaner von gegenüber. Ohne auf die Doppeldeutigkeit meiner Worte einzugehen, ging er zum Kühlschrank und erschien mit leeren Händen an der Tür. "Ich habe keine Eier", bedauerte er. "Naja", erwiderte ich, "dann gehe ich runter zu dem afrikanischen Freund der italienischen Nachbarin." "Der Peruaner von oben hat keine Eier", sagte ich zu dem Afrikaner, "du wirst mich doch nicht enttäuschen, oder?" Nach wenigen Sekunden stand er mit einer Zwölferpackung Eier vor mir. "Wie viele brauchst du?", fragte er mit breitem Grinsen.
Vor drei Wochen wurde ich in den frühen Morgenstunden wach. Aus dem Hof drangen seltsame Geräusche herauf. Weil ich auch im Schlaf über meine Straße wache, ging ich im Nachthemd auf den Balkon. Als ich sah, wie vier Typen mehrere Fahrräder aus dem Hof über das Gartentor hievten, schrie ich wie eine Sirene. "Spinnt ihr? Lasst die Räder da, verpisst euch!! Ich rufe die Polizei!!" Pfeilschnell kam der Nachbar aus dem Erdgeschoss, bekleidet mit einer Unterhose, aus seiner Wohnung geschossen und stellte sich den Dieben entgegen. Eine vorbeifahrende Zivilstreife der Polizei verhinderte Schlimmeres.
Nach dem nächtlichen Schreck schlief ich am Sonntag bis zum frühen Mittag. Die Italienerin klingelte mich aus dem Bett. Ihr wurde einige Tage zuvor eine Krampfader entfernt und wir wollten absprechen, ab wann ich auf ihre Tochter aufpasse. Während wir im Hausflur quatschten, schlug der Wind die Wohnungstür vor unseren Nasen zu. Der Schlüssel steckte innen und die Nachbarin von gegenüber, die einen Zweitschlüssel hat, war am Wannsee baden. Die Mieterin aus dem Erdgeschoss, die wiederum einen Schlüssel zur Nachbarwohnung hat, war ebenfalls baden gegangen. Die Italienerin räkelte sich mit ihrem sexy Stützstrumpf auf dem Sofa, ich rief den Schlüsseldienst.
Am frühen Abend, zur Sendezeit von Deutschlands berühmtester Fernsehserie, gab ich den Blumen auf dem Balkon Wasser und rief die Kinder im Hof zusammen. "Wer will wachsen?", rief ich ihnen zu. "Ich!!!", schrien sie im Chor. Ich nahm die Gießkanne und goss sie. Ihnen beim Wachsen zuzusehen ist besser als zehn Lindenstraßen zusammen.
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