piwik no script img

NachrufVollender der Formen

Michelangelo Antonioni wurde nicht müde, sein Publikum herauszufordern. Mit "Blow Up" hatte er einen Schlüsselmoment des Kinos geschaffen. Er starb am Montag im Alter von 94 Jahren in Rom.

Michelangelo Antonioni: Er wurde 94 Jahre alt. Bild: dpa

Am Ende bleiben Bilder von Dingen. Häuserfronten, Laternen, Fensterrahmen, Balkonbrüstungen, angeordnet in geometrischer Strenge. Wie Standbilder folgen sie aufeinander, minutenlang. Der Film "Leclisse" schafft hier, an seinem Ende, ein Kino ohne Menschen, starr und teilnahmslos, nüchtern und leergefegt wie das, was sich aus den einzelnen Einstellungen zusammensetzt: die Straßen und Häuser einer frisch errichteten römischen Vorstadt im Hochsommer, vermutlich zur Mittagszeit. Die Figuren Vittoria und Piero hat der Film an dieser Stelle längst aus den Augen verloren. Er wird nicht mehr zu ihnen zurückkehren.

Das Werk

1942: Un pilota ritorna, Arbeit am Drehbuch, Regie Roberto Rossellini

1942: I Due Foscari, Arbeit am Drehbuch, Regie Enrico Fulchignoni

1943: Gente del Po (Menschen am Po)

1948: Roma-Montevideo

1948: Oltre loblio

1948: Nettezza Urbana

1949: Superstizione (Aberglauben)

1949: Sette canne, un vestito (Seven Reeds, One Suit)

1949: Ragazze in bianco

1949: Bomarzo

1949: LAmorosa menzogna (Lies of Love)

1950: La Villa dei mostri (The Villa of Monsters)

1950: La Funivia del faloria (The Funicular of Mount Faloria)

1950: Cronaca di un amore (Chronik einer Liebe)

1952: Lo Sceicco bianco (Der Weiße Scheich), Arbeit am Drehbuch, Regie Frederico Fellini

1953: La Signora senza camelie (Die Dame ohne Kamelien)

1953: I Vinti (Kinder unserer Zeit)

1953: Lamore in città (Liebe in der Stadt)

1955: Le Amiche (Die Freundinnen), Silberner Löwe in Venedig

1957: Il Grido (Der Schrei)

1959: Nel segno di Roma (Im Zeichen Roms)

1959: LAvventura (Die mit der Liebe spielen), Preis der Jury in Cannes

1961: La Notte (Die Nacht), Goldener Bär Berlinale

1962: LEclisse (Liebe 1962)

1964: Il Deserto Rosso (Die Rote Wüste), Goldener Löwe in Venedig

1965: I Tre volti (Die Drei Gesichter einer Frau), Episode: "Il Provino"

1966: Blow Up, Goldene Palme in Cannes 1967

1970: Zabriskie Point

1972: Chung Kuo - Cina (Antonionis China)

1975: Professione: reporter (Beruf: Reporter)

1981: Il Mistero di Oberwald (Das Geheimnis von Oberwald)

1982: Identificazione di una donna (Identifikation einer Frau)

1989: Kumbha Mela

1989: 12 registi per 12 città, Episode "Roma"

1993: Noto, Mandorli, Vulcano, Stromboli, Carnevale

1995: Al di là delle nuvole (Jenseits der Wolken)

2004: Lo Squardo di Michelangelo (Michelangelo Eye to Eye)

2004: Eros, Episode "Il filo pericoloso delle cose" DOB

Bei einem anderen Regisseur als Michelangelo Antonioni wären Vittoria (Monica Vitti) und Piero (Alain Delon) ein Paar geworden. Die schöne, schlanke, von unergründlichem Ennui getriebene Frau, der junge, tatkräftige Börsenmakler - sind sie nicht allein ihrer Jugend, ihrer Schönheit wegen wie geschaffen füreinander? Doch schon in einer der ersten Einstellungen, die die beiden zusammen ins Bild bringt - es ist eine Szene im hektischen Getriebe der römischen Börse -, drängt sich eine riesige Rundsäule zwischen die beiden. Ein einfaches, aber umso wirkmächtigeres Statement: Die Entfremdung ist schon da, bevor Nähe überhaupt entsteht.

"Leclisse" ("Liebe 1962" lautet der deutsche Titel) ist der letzte Teil einer lockeren, in Schwarz-Weiß gedrehten Trilogie, an der Michelangelo Antonioni Ende der 50er-, Anfang der 60er-Jahre arbeitete. "Lavventura" ("Die mit der Liebe spielen", 1959) und "La notte" ("Die Nacht", 1961) bilden die ersten beiden Teile. In allen drei Filmen geht es um ausgeglühte Lieben, um Bindungen, die entweder an ihrem Ende angekommen sind oder es überhaupt nie zu einem Anfang bringen. Unvergesslich, wie etwa Jeanne Moreau in "La notte" durch eine Mailänder Villa streift, in der eine Party stattfindet, durch den Garten, an den anderen Gästen vorbei. Es scheint sie nichts anzugehen, sie ist eine Fremde, mit ihrem von Marcello Mastroianni gespielten Ehemann verbindet sie nichts.

Um von solchen Zuständen der Isolation und der Entfremdung zu erzählen, brauchte Antonioni keine geradlinige Handlung und kein schlüssiges Psychogramm der Figuren. Er hatte vielmehr den Mut, Leerlauf, Stille und Ambivalenz zuzulassen. Struktur stellte er her, indem er genuin filmische Mittel wählte: etwa den Gegensatz zwischen dem heiteren Treiben der Party und der für sich bleibenden, somnambulen Moreau in "La notte" oder den Gegensatz zwischen den langsamen, ziellosen Bewegungen Vittis in "Leclisse" und der entfesselten Betriebsamkeit des Börsenparketts. Es sind Kontraste des Tons und der Temperatur. Gegensätze von Intensität und Nüchternheit, von Bewegung und Ruhe, von Lärm und Stille.

20 Jahre später, in "Identificazione di una donna" ist es noch genauso: Wieder legt Antonioni die Entfremdung eines Paares in eine einzige Einstellung. In einer Szene sieht man Ida (Christine Boisson) und Niccolò (Tomas Milian), doch ihn nur als Reflexion in einem Spiegel und deshalb seitenverkehrt. Man ahnt, dass sein Blick die andere Figur sucht, die Kamera freilich zeigt, weil sich im Spiegel die Blickrichtung ändert, das Gegenteil davon, den abgewandten Blick. Ein Bild, und alles ist gesagt über das Paar, das keines wird.

Aber nur scheinbar. Denn bei all dieser Meisterschaft, diesem genuin filmischen Vermögen wurde Antonioni nicht müde, sein Publikum mit rätselhaften Arrangements herauszufordern - etwa mit dem Film, der auf die Trilogie folgte. "Il desserto rosso" ("Die rote Wüste"), entstand 1964, es war der erste Farbfilm Antonionis - und was für ein Farbfilm, was für ein Auskosten der Möglichkeiten von Technicolor! Wieder spielt Monica Vitti die Hauptrolle, diesmal gibt sie eine Frau, die nach einem Autounfall aus ihrem Alltag und ihrem Leben fällt, ohne dass man je genau erführe, was dieser Alltag, was dieses Leben ist. Ziellos streift sie durch ein Industriegebiet, begleitet von ihrem vier Jahre alten Sohn. Die Schlote stoßen schwefelgelben Rauch aus, einmal nimmt sie, die doch aus besten Verhältnissen stammt, den Arbeitern das Pausenbrot weg. Das Grün ihres Mantels setzt sich von den Ockertönen der dystopischen Landschaft ab. Man sollte diese Bilder nicht, wie es zeitgenössische Kommentatoren gerne taten, mit Kulturpessimismus oder gar Ekel vor der Moderne erklären. Eher schulden sie sich einem Blick, der sich seinem Gegenstand gegenüber mal skeptisch, mal fasziniert verhält. Einem nüchternen Starren, vielleicht.

In einem Interview mit den Cahiers du cinéma hat Jean-Luc Godard drei Jahre nach dem Entstehen des Filmes gesagt: "In 'Die rote Wüste' hatte ich den Eindruck, daß die Farben nicht vor der Kamera, sondern in der Kamera seien." Und die deutsche Filmkritikerin Frieda Grafe nutzte den Film, um sich allgemeine Gedanken über Farbe im Film zu machen - um eine Theorie von "Innenfarben", von "Affektfarben" zu skizzieren, von Farben also, die von denen der äußeren Wirklichkeit weit abweichen. Vom ästhetischen Programm des Neorealismus, das den 1912 geborenen Antonioni bei seinen ersten Schritten als Regisseur noch begleitete, bei dem Dokumentarfilm "Gente del Po" (1943) etwa, ist hier nichts mehr zu spüren.

In "Blow Up" (1966), der berühmten Verfilmung einer Kurzgeschichte Julio Cortázars, hat Antonioni schließlich etwas in Szene gesetzt, was als Schlüsselmoment der Fotografie und des Kinos gelten muss. Thomas, ein Fotograf (David Hemmings), schießt Modefotos in einem Londoner Park. Als er in seinem Atelier die Negative entwickelt und Vergrößerungen anfertigt, bemerkt er etwas Verstörendes im grobkörnigen Bildhintergrund. Zwischen den Büschen ist ein Mord geschehen. Das Kameraauge hat ihn bezeugt, das menschliche Auge nicht. Jenes kann in die Tiefe gehen, kann eine erste Schicht der Wirklichkeit durchbohren und so die tiefer liegenden Schichten zutage fördern. Dieses ist dazu nicht in der Lage. Die Apparate verändern und erweitern die Wahrnehmung; sind sie einmal in der Welt, wird ein Auge nicht mehr schauen können wie zuvor.

Es ist eine seltsame Koinzidenz. Wenn Ingmar Bergman Filme drehte, in denen man Paaren in der Krise zuschauen konnte, wie sie zu retten versuchen, was zu retten ist, dann drehte Michelangelo Antonioni zur selben Zeit Filme, die die Möglichkeit, ein Paar zu sein, erst gar nicht aufkommen ließen. Dass sie nun fast zeitgleich starben, der eine, 89-jährig, am Montagmorgen auf der Ostseeinsel Fårö, der andere, 94-jährig, am Montagabend in seinem Haus in Rom, das wäre im Film zu viel des Zufalls. Im wirklichen Leben gehört es wohl zu jener Kontingenz, mit der umzugehen noch jeden von uns überfordert.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

1 Kommentar

 / 
  • GB
    gregor blazewski

    Anläßlich Ihres Nachrufes möchte ich Ihnen meine Einschätzung von Antonionis Film L'ECLISSE, die ich vor einiger Zeit geschrieben habe, nicht vorenthalten:

    L?ECLISSE (Italien 1962; R: Michelangelo Antonioni)

    Der Film beginnt in völliger Erstarrung: da ist schon im Anfang kein Leben: die Welt ist ein Innenraum und vor lauter Wänden und Fenstern ist kein Ausblick. Wenn Monica Vitti in dieser Anfangsszene den Vorhang auf ein Fenster öffnet, um hinauszuschauen, sieht sie bzw. der Zuschauer nur ihr Spiegelbild. Und ein andermal ist der Blick aus dem Fenster nicht anders wie ein Blick auf ein Bild an der Wand: draußen ist nur eine starre Architektur zu sehen: modernistisch. Das alles ist so gewollt leblos und abstrakt, daß es niemals als Weltbeschreibung sichtbar wird, sondern stets als Absichtserklärung des Filmemachers erscheint: Niemals gelangt Antonioni in diesem Film darüber hinaus. Außenaufnahmen sind so geleert von Welt und Leben, daß es schon ein Witz ist: auf den Straßen fährt kein Auto, geht kein Mensch ? nur, wenn sie gebraucht werden, tauchen solche auf und haben dann gleich symbolische Funktion. Die Börsenszenen sind nur lang, ohne etwas vom Kapitalismus zu erzählen.

    So ist dieser ganze lange Film Ausgeburt einer Kunst, die kein Leben kennt, außer der Innenwelt der gelangweilten Bourgeoisie, und die ?obwohl on location gedreht ? künstlicher und ausgedachter ist als es Hollywoods Studiofilme je waren.

    Antonioni interessiert sich nicht für die Welt (und dieses Desinteresse gibt er als Analyse der Welt aus!) und er kennt anscheinend keine anderen Probleme als die Liebesprobleme bürgerlicher Wesen, die keine materiellen Probleme kennen. (Das wird auch deutlich in der Börsenszene: wo angeblich Millionen verloren wurden. Das geht hier vorbei, weil es ja nur materielle Probleme sind: Die sind für Antonioni offensichtlich marginal. Für ihn zählt nur die Unfähigkeit zur Liebe, denn Geld haben Leute wie er und seine Filmpersonen irgendwie immer, auch wenn sie Millionen verloren haben.)

    Am verstiegensten ist der Schluß, allerdings auch am symptomatischsten: diese Sequenz wäre, für sich genommen, als Teil eines Dokumentarfilms zu sehen, aber im Zusammenhang ist dieser Schluß symbolisch gemeint und das raubt ihm jede Glaubwürdigkeit: weil das vermeintlich dokumentarische nämlich gemacht ist: und hier wird uns tatsächlich etwas ?vorgemacht?. Nicht der Erkundung der Wirklichkeit dient hier der Ausflug in Realität, sondern die Wirklichkeit wird hier stilisiert als Außenbild der Innenwelt. Die Leere ist nichts als Suggestion, eine Konstruktion des Künstlers, damit seine Personen auch schön einsam und entfremdet wirken können. Aber dieses Leiden des Bürgertums am von ihm selbst angerichteten ist doch reichlich luxuriös und heuchlerisch.

    Und die Baustelle steht still in der Sonnenfinsternis herum: Hier wird nicht gearbeitet und es gibt auch keine Arbeiter auf der Baustelle.

    Was Antonioni unter Arbeit versteht, kann man in LE AMICHE (1955) sehen: das Führen eines Modesalons gilt dort als schöpferische Arbeit. Mode, Luxus und Liebe sind wohl die Dinge, die für Antonioni das Leben ausmachen.

    Heute nennt man Filme, wie Antonioni sie gemacht hat, abschätzig Beziehungskisten, damals galt das als Filmkunst. Natürlich ist das ästhetisch auf hohem Niveau, aber genauso leer, wie die Leere, die zu beschreiben Antonioni vorgibt.