Konsum: "Der Verbraucher ist blind"

Der Staat verliert an Einfluss, der Kunde wird mächtiger - und ist überfordert. Interview mit Gerd Billen, neuer Chef des Bundesverbandes der Verbraucherzentralen.

"Blind geworden für Genuss": Einkauf im Supermarkt Bild: dpa

taz: Herr Billen, Milch und Butter werden deutlich teurer. Was sagen Sie dazu als oberster Verbraucherschützer?

Gerd Billen: Essen darf mehr kosten, wenn dafür die Qualität zunimmt. Die jüngsten Lebensmittelskandale haben gezeigt, wohin die Werbepolitik "Top-Qualität zu Schnäppchen-Preisen" führt. Nur sollen die Produkte nun von heute auf morgen um bis zu 50 Prozent mehr kosten. Merkwürdig, dass die Milchindustrie und die Zentrale Markt- und Preisberichtsstelle die Erhöhung auf den Cent genau ankündigen. Das riecht nach Preisabsprachen und ruft nach den Kartellbehörden.

GERD BILLEN, 51, ist neuer Chef des Bundesverbandes der Verbraucherzentralen. Dabei hatte er 1985 die "Verbraucherinitiative" gegründet, weil ihm die Verbraucherzentralen zu konsumfreundlich waren. 1993 wurde er Geschäftsführer beim Naturschutzbund, 2005 Umweltbeauftragter beim Versandhaus Otto.

Drei Projekte hat sich der gelernte Ernährungswissenschaftler Gerd Billen zu Beginn seiner Amtszeit bei der Verbraucherschutzzentrale vorgenommen. Erstens sollen Lebensmittel schon auf der Verpackung künftig Farbe bekennen - mit einer Ampelkennzeichnung. Die Farben Grün, Gelb und Rot sollen auf niedrigen, mittleren und hohen Gehalt an Fett, Zucker und Salz hinweisen. Der Verbraucher kann so ungesunde Nahrung leichter als solche erkennen und erhält damit zusätzliche Informationen für seine Kaufentscheidung.

Aber wenn die Qualität von Lebensmitteln mit steigendem Preis zunimmt - müsste dann nicht der Hartz-IV-Satz erhöht werden? Sonst können sich doch nur Reiche gutes Essen leisten.

Die Kunden werden an der Ladentheke über die künftigen Preise und das Angebot entscheiden. Fehlentwicklungen muss der Staat allerdings einfangen. So muss er etwa sicherstellen, dass die Schulmilch finanzierbar bleibt.

Verbraucherschützer haben lange Zeit geraten, vor allem auf den Preis zu achten. Sind sie nicht für den Frevel verantwortlich?

Sie haben früher wöchentlich die Preise für Sellerie und Trauben veröffentlicht. Ich habe mich darüber schon immer geärgert. Denn der Verbraucher ist blind geworden für Genuss sowie für soziale und ökologische Auswirkungen.

Braucht der Verbraucher nun Schutz vor sich selbst - damit er die Schnäppchenjagd beendet?

Ich würde mich gegen eine polizeiartige Einrichtung, die mich schützen will, wehren. Dafür habe ich zu viel Spaß an meiner Freiheit. Ich werde auch keine Selbsthilfegruppe gründen, um Kaufzurückhaltung einzuüben.

Sie glauben also an den mündigen Verbraucher. Löst der jetzt den mündigen Bürger ab?

Wir leben heute in einer anderen, einer globalisierten Welt. Ich kann mit meiner Kaufentscheidung Dinge im Positiven wie im Negativen beeinflussen, unabhängig davon, was meine Regierung macht. Und vielleicht sogar stärker - weil Regierungen keine nationalen Handlungsmöglichkeiten mehr haben. Konsumenten sind nicht unschuldige Opfer, die Tag für Tag vor der bösen Wirtschaft geschützt werden müssen. Dennoch sind sie vielfach überfordert.

Kein Wunder - sie sollen ins Internet gehen, sich informieren, nur Gutes kaufen

Ich erwarte nicht, dass sich jemand 24 Stunden lang mit der Frage beschäftigt, wie Produkte und Dienstleistungen hergestellt werden, die er an dem Tag konsumiert. Aber ich glaube, es ist wichtig, Informationen bereitzustellen. Damit ein Verbraucher die Auswirkungen des Konsums berücksichtigen kann.

Wenn er das nicht macht, handelt er moralisch falsch?

Nicht, solange er nichts über das weiß, was er mit seinen Konsumgewohnheiten bewirkt. Die Verantwortung beginnt da, wo ihm die Konsequenzen aufgezeigt werden. Und er muss klare Hinweise haben.

Wieso müssen Verbraucher die Welt retten - und nicht der Staat?

Der eine muss es tun, und der andere auch. Der Staat muss für die Leitplanken sorgen. Von der Energiewirtschaft werden wir zum Beispiel nicht mehr Öko-Energie bekommen, indem wir nur auf die Verbraucher setzen.

Und wann greifen Sie als Verbraucherschützer ein?

Wer in eine Schuldenfalle gerät, braucht natürlich Beratung, um die Insolvenz vernünftig lösen zu können. Und: Wer gibt Hinweise, welcher Krippenplatz fürs Baby, welcher Ausbildungsgang für die Kinder, welches Pflegeheim für die Eltern gut ist? Rat, der von Anbietern unabhängig ist, gibt es nur wenig. Wir geben Unterstützung im Alltag. Auch wer sich heute sozial und ökologisch fair verhalten will, braucht Informationen. Etwa darüber, ob Firmen Sozialstandards einhalten.

Fürchten die Manager der Herstellerfirmen denn die Macht des Verbrauchers?

Seitdem ich beim Versandhaus Otto gearbeitet habe, weiß ich, dass Unternehmen sehr sensibel reagieren, wenn Verbraucher beispielsweise wissen wollen, welche Schadstoffe in ihren Kleidern sind.

Hat der Konzern darum Produkte verbannt?

Er hat zum Beispiel sehr früh Pelze ausrangiert. Auch Elektrogeräte, die nur die schlechte Energieeffizienzklasse C erreichen - und nicht die bessere Kategorie B oder A - sind aus dem Katalog rausgeflogen. Zugegeben, es sind nicht immer direkte Reaktionen auf einzelne Kunden. Aber Unternehmen, die Wert auf einen sauberen Ruf legen, kümmern sich.

Ach ja, wie?

Sie durchforsten heute vor allem Blogs im Internet, um einen Eindruck davon zu bekommen, wie ihre Produkte ankommen. Das ist das virtuelle freundliche Gespräch über den Gartenzaun - na, Herr Nachbar, wie ist der neue Wagen? Die neuen Medien bieten Verbrauchern große Chancen, sich bemerkbar zu machen.

Niemand will T-Shirts, für die Näherinnen kaum Geld bekommen. Trotzdem liegen sie im Regal. Da haben die Verbraucherschützer versagt?

Die Verbraucherzentralen der Bundesländer haben bislang vor allem Wert auf Beratung gelegt - nicht auf politisches Engagement der Basis. Das ist die neue Herausforderung.

Auf die müssen sie reagieren. Werden Sie sich an Schornsteine ketten?

Nein, aber es ist denkbar, dass vor dem einen oder anderen Kleiderständer einer großen Firma in Deutschland künftig aktive Unterstützer der Verbraucherbewegung auftreten.

Werden Sie auch zum Boykott von Firmen aufrufen?

Wenn Produkte auf den Markt kommen, die gesundheitsschädliche Stoffe enthalten - dann ja.

Letztendlich erziehen Sie also Verbraucher zu nachhaltigem Konsum, um politische Forderungen durchzusetzen?

Die Verbraucherinformation bewirkt zunächst eine Sensibilisierung. Es zeigt Unternehmen, dass es Märkte gibt für nachhaltige Produkte. In Großbritannien haben Tesco und Marks and Spencer große Nachhaltigkeitsprogramme entwickelt - mit Regionalvermarktung und Kennzeichnung von eingeflogenem Obst und Gemüse, welches das Klima besonders belastet.

Warum tun sich deutsche Unternehmen da so viel schwerer?

Die britischen Unternehmen nutzen das Marketingpotenzial. Wer hier aber den Kopf raussteckt, kleine Dinge macht, bekommt von Nichtregierungsorganisationen aller Art schnell eins übergebraten. Für Unternehmen gibt es hier keine aufgeschlossen Atmosphäre. Die Kritik ist sehr schnell da. Man ist immer in Gefahr, dass man widerlegt wird, Einzelfälle nicht funktionieren.

Ein Beispiel?

Bei Otto ist ein Subunternehmer in Indien gefunden worden, bei dem Kinder gearbeitet haben. Der Stern hat eine riesige Geschichte gemacht. Niemand hat darüber gesprochen, was das Unternehmen seit 15 Jahren macht, um so etwas zu verhindern. Es gibt hier keine Fehlertoleranz.

Sie würden so einen Fall nicht öffentlich machen?

Ich würde mir überlegen, ob mich die Veröffentlichung oder ein Gespräch mit dem Unternehmen eher zum Ziel bringt.

Ein Verbraucherschützer sollte sich doch mit Managern anlegen und nicht lieb zu ihnen sein.

Ich werde das eine wie das andere tun. Tchibo hat in Bangladesch nicht den Mindestlohn bezahlt. Das war Firmenstrategie - und eine öffentliche Kampagne dagegen wichtig.

Darf Einkaufen überhaupt noch Spaß machen?

Sicher, das Bild vom rationalen Verbraucher der ökonomischen Theorie bleibt eine Fiktion. Jeder lässt sich gerne verführen.

Sie sich etwa auch?

Ich habe mir von einem Telekommunikationsanbieter einen besonders sparsamen Minitarif aufschwatzen lassen. Nach drei Monaten habe ich festgestellt, dass er gar nicht so sparsam ist, wie ich dachte. Jetzt brauche ich aber ein Jahr, um aus dem Vertrag zu kommen.

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