INTERVIEW: "Kinder helfen anderen Kindern sehr gern"

Viele Grundschulen führen in diesem Schuljahr die jahrgangsübergreifende Eingangsstufe ein. Die Skepsis der Eltern ist groß. Völlig zu Unrecht, meint Ruth Weber, Direktorin der Peter-Petersen-Schule in Neukölln.

Diese Schultüte wird bei den Zweitklässlern sicherlich Neid hervorrufen. Bild: DPA

taz: Frau Weber, fast die Hälfte der Berliner Grundschulen führt ab diesem Schuljahr die jahrgangsübergreifende Eingangsstufe der ersten und zweiten Klasse ein. Skeptische Einwände hört man nicht nur von vielen Eltern. Sind sie berechtigt?

RUTH WEBER besuchte selbst fünf Jahre lang die heutige Peter-Petersen-Grundschule. Vor 42 Jahren kam sie als Lehrerin zurück, seit 26 Jahren ist sie Schulleiterin. In zwei Wochen geht sie in den Ruhestand.

Ruth Weber: Ich denke, nein. Aber es ist schwer, Eltern, die Frontalunterricht gewohnt sind, klarzumachen, dass dieser Unterricht für Kinder eine Chance ist.

Was für eine Chance?

In den jahrgangsübergreifenden Klassen kommen die neu eingeschulten Kinder in eine Klasse, die schon Erfahrung mit Unterricht hat. Die Älteren wenden sich den Jüngeren zu. Jedes neue Kind bekommt ein älteres als Paten. Diese bringen den Kleinen bei, was über den Unterricht hinaus wichtig ist. Was macht man in der Pause? Wo sind die Toiletten? Wann zieht man Sportschuhe an? Die Erfahrung zeigt: Ängstliche Kinder fassen zu etwas älteren Kindern leichter Vertrauen als zu Erwachsenen.

Und welche unterrichtsbezogenen Pluspunkte gibt es?

Kinder sprechen über Dinge in der Schule. Miteinander reden, zuhören, in einer Gruppe reden, Erfahrungen mitteilen, über Sachverhalte reden lernen - das zu lernen ist ganz wichtig. Da ist es natürlich toll, dass die Älteren den Kleinen vormachen, wie man ein Klassengespräch macht. Dadurch wachsen die Kinder ganz leicht in diese Unterrichtskultur rein.

Tauen schweigsame Kinder so leichter auf?

Und Vielredner bremsen sich öfters. Zudem beobachten wir, dass leistungsschwächere Ältere regelrecht aufblühen, wenn sie Jüngeren etwas erklären können. Kinder helfen anderen Kindern sehr gern. Sie belehren auch gern. Durch den Vergleich mit den Jüngeren begreifen sie, dass sie doch viel gelernt haben. Auch für die älteren Kinder ist es ein ganz wichtiger Punkt, sich damit auseinandersetzen, wie es war, als sie in die Schule kamen. So können sie einen Bezug zu sich selbst erarbeiten.

Lernen denn die Älteren auch von den Jüngeren?

Das passiert auch. An unserer Schule sind ja die erste, zweite und dritte Klasse und die vierte, fünfte und sechste zusammengelegt. Wenn etwa die Älteren in die Pubertät kommen und ein Desinteresse an der Schule entwickeln, reißen die Jüngeren sie doch wieder mit.

Alles spricht also dafür?

Ja. Ich habe sehr genau hingehört bei den Einwänden gegen jahrgangsübergreifende Klassenstufen. Aber ich konnte nur zwei Gründen folgen. Eine Lehrerin sagte: Sie kann mit den neuen Schülern keine neuen Regeln des Zusammenarbeitens finden, weil sie ja schon von den Älteren her bestimmt sind.

Wie argumentieren Sie dagegen?

Regeln sind von Jahr zu Jahr nicht so unterschiedlich. Und das andere Argument war: Eine Gruppe, die sich jedes Jahr durch ein Drittel neuer Schüler ändert, wächst nie zu einer Gemeinschaft zusammen.

Ihr Gegenargument?

Ob das eine Qualität ist, die man unbedingt erreichen muss, das stelle ich in Frage. Bei uns jedenfalls werden keine Konkurrenzen zu Parallelklassen aufgebaut, weil die Kinder gelernt haben, sich in wechselnden Gruppen zu orientieren. Das bedingt eine größere Offenheit gegenüber anderen. Das will man an der Schule ja erreichen. Man will, dass unterschiedlichen Nationalitäten, Begabungen, Behinderungen und kulturellen Herkünften mit Neugier begegnet wird. Oder dass man lernt, darüber zu reden, wenn man Kummer damit hat.

Das heißt vor allem, das soziale Lernen wird durch die Klassenstufenmischung gefördert?

Eindeutig. Aber Sie können soziales Lernen gegen anderes Lernen kaum abgrenzen. Wenn etwa ein Älterer einem Jüngeren Buchstaben zeigt, dann haben Sie beides.

Ihre Erfahrungen beziehen sich auf die dreiklassigen Jahrgangsstufen. In Berlin sollen nun spätestens ab nächstem Schuljahr verbindlich nur zwei Jahrgangsstufen zusammengelegt werden. Sind die Entwicklungsunterschiede zwischen Erst- und Zweitklässlern tatsächlich so groß, dass diese sich viel geben können?

Den Einwand habe ich auch von Lehrern gehört. Sie haben gesagt: Die Zweitklässler sind noch nicht so weit. Ich antworte: Aber Sie werden doch in dem einen Jahr was vermittelt haben? Mit Ihrem Argument werten Sie Ihre eigene Arbeit ab.

Sie plädieren aber ganz stark dafür, drei Klassenstufen zu mischen?

Ich plädiere sogar für die Altersmischung nicht nur in der Grundschule, sondern auch in der Sekundarstufe. So ist auch das ursprüngliche Konzept von Peter Petersen, dem Reformpädagogen aus dem letzten Jahrhundert. Die jetzige jahrgangsübergreifende Eingangsklasse ist nur ein kleiner Schritt in die richtige Richtung.

Wenn das so gut ist, warum führt Berlin es dann jetzt nicht konsequent ein?

Wer die drei Altersstufen umfassende jahrgangsübergreifende Klasse einführen will, dem werden in Berlin keine großen bürokratischen Hindernisse in den Weg gelegt. Die meisten, die bei uns hospitieren, sind von dem Modell überzeugt. Trotzdem ist es für die Lehrer mitunter natürlich eine Herausforderung. Sie müssen unter Umständen eingefahrene Wege verlassen.

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