Gemeinschaftsessen: Gemütlicher Straßenkampf

Eine französische Buchhandlung organisiert in der Linienstraße in Berlin-Mitte ein Kiezpicknick nach dem Vorbild der "repas de quartier".

Vereint die Nachbarn: Französisches Stangenbrot Bild: REUTERS

Das binationale Festkomitee trifft sich nach Ladenschluss in der französischen Buchhandlung Zadig. An diesem Abend diskutiert man bei Oliven, Salzgebäck, Wein und Pastis unter anderem die Farben der Malkreiden für das Kinderprogramm. Was die Vorbereitung von Festen betrifft, entwickeln auch Franzosen deutsche Gründlichkeit. Kein Detail des Kiezpicknicks morgen in der Linienstraße wird dem Zufall überlassen.

Es ist bereits das zweite Kiezpicknick, das Patrick Suel, Inhaber der Buchhandlung Zadig, und seine Frau Mirjam Ochoa-Suel organisieren. Das erste fand vor zwei Jahren statt. Damals trafen sich ungefähr hundert Personen, um gemeinsam zu essen und zu feiern. In diesem Jahr sollen es mehr werden.

"Vor zwei Jahren trauten sich viele nicht, besonders die Älteren", erzählt Mirjam Ochoa-Suel. "In diesem Jahr bekommt jeder Haushalt eine Einladung." Die Anwohner hielten die lange, weiß gedeckte Tafel mitten auf der Straße wohl für eine private Feier. Kein Verkaufsstand. Keine Würstchenbude. Wie ein Straßenfest sah das nicht aus. "Es war eine entspannte Atmosphäre", erinnert sich Anke Kühn. Die 37-jährige Landschaftsarchitektin bereitet dieses Jahr das Kiezpicknick mit vor. "Man fühlt sich als Mensch stark, wenn man die Straße zurückerobert, einfach um zu leben und zu spielen", sagt sie.

Mit dem Kiezpicknick importiert Zadig eine moderne französische Tradition nach Berlin, die "repas de quartier". Das erste "repas de quartier" fand 1991 in Toulouse statt. Der Schriftsteller und Musiker Claude Sicre wollte Nachbarn, Menschen verschiedener Kultur, Klasse und Sprache bei einem Essen miteinander ins Gespräch bringen. Die "repas de quartier" sollen außerdem jene Organisationen in die Mitte der Straße rücken, die sich sozial engagieren. Schnell setzte sich die gemütlichere Variante des Straßenkampfes um Gleichheit und Brüderlichkeit in Frankreich durch. Alle bringen etwas zu essen und zu trinken und einen Stuhl mit. Wasser wird häufig von den Organisatoren spendiert, die sich auch um die Straßensperrung kümmern. "Die repas de quartier gehen zum Ursprung der Demokratie zurück", erklärt Patrick Suel. "Sie sind völlig frei von kommerziellen Interessen."

Bunte Malkreiden oder nicht? Das ist die erste Frage dieses Abends. "Wenn wir nur rote und weiße Kreiden nehmen, konzentrieren sich die Kinder stärker auf die Ornamente", argumentiert die Künstlerin Sandrine Maheo, die mit den Kindern malen wird. Sie reicht Entwürfe dieser Ornamente in die Runde.

Nach einer kurzen Debatte einigt sich das Festkomitee, frankophile und -phone FreundInnen der Buchhandlung, auf den Vorschlag der Künstlerin. Tagesordnungspunkt Nummer zwei: Die passende Uhrzeit für den Beginn. "Ich bin für 15 Uhr", sagt Anke Kühn. "Eine typisch deutsche Zeit. Vor zwei Jahren haben wir 13 Uhr angefangen. Das war zu französisch. Die kamen alle erst später."

Nicht nur die blau-weiß-rot gestreiften Plakate mit der Ankündigung der "schönsten Franzosen" vermitteln mitunter den Eindruck, Berlin läge mitten in Frankreich. In den Straßen von Mitte und Prenzlauer Berg dominiert an diesen Spätsommerabenden die Sprachmelodie der französischen Neuberliner. Doch für das Kiezpicknick gilt diesmal die Berliner Zeit. Die Französische Botschaft, das Institut français und der Senat unterstützen das Kiezpicknick, doch waren auch Initiativen und Spenden aus der Linienstraße notwendig. Allein die notwendige Straßensperrung kostet vierhundert Euro.

Mehr Farbe ist erwünscht

Es bedurfte einiger Zähigkeit, die nichtkommerzielle Idee im Kiez zu verankern. "Die Reaktionen der Geschäftsleute kamen anfangs schleppend", sagt Anke Kühn. "Wir mussten immer wieder erklären, dass es nicht darum geht, Stände aufzubauen und Geld zu verdienen, sondern einfach dabei zu sein." Der Bioladen tat sich anfangs schwer mit dem Projekt, ist jetzt aber mit einer Kiste Äpfel dabei. Das Kulturhaus Mitte spendierte Tische, das "Blumenzimmer" die Dekoration. Die Agentur Me4dia druckte die Flyer. Viele andere spendeten Geld.

Janina Argilagos, die Projektleiterin des Interkulturellen Frauenzentrums S.U.S.I., war hingegen sofort dabei. "Wir gestalten einen Teil des Kinderprogramms", sagt sie. Argilagos ist froh, dass es noch Initiativen wie diese in der Linienstraße gibt. "Sonst sind wir bald allein mit den Neureichen, die glauben, wenn sie nur genügend Geld bezahlen, leben sie so ruhig wie im Wald."

Sie spielt auf die Veränderung der Linienstraße an, in der sie seit über zehn Jahren lebt und arbeitet. In den Neunzigerjahren hatte sich die Straße in der Nachbarschaft des Tacheles zum Experimentierfeld für alternative Kunst und Kultur entwickelt. Doch nach der Sanierung etablierten sich in den luxuriösen Altbauten überwiegend international arbeitende Galeristen, gutsituierte Doppelverdienerpaare und Geschäftsleute. S.U.S.I. hat dem Wandel widerstanden. Der Verein residiert in einem DDR-Plattenbau. Dort ist die Miete noch erschwinglich.

Janina Argilagos stört allerdings beim Kiezpicknick, dass nur französische und deutsche Künstler kommen. Aus Paris reist der Musiker Fantazio an, Musette brachiale aus Berlin werden aufspielen und das deutsch-französische Duo NSondé. "Das ist doch sehr zentraleuropäisch", moniert sie.

"Natürlich sind die repas de quartier in Paris vielfältiger", entgegnet Patrick Suel. "Dort sitzen Chinesen, Maghrebiner und Franzosen nebeneinander." Auch er, in dessen Buchhandlung schon häufig frankophone Autoren von anderen Kontinenten gelesen haben, hätte gern mehr Farbe - nicht unbedingt bei den Malkreiden, aber doch unter den Gästen.

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