Kapitäns-Geschichten: "Wer Angst hat, darf nicht raus"
Seefahrt steht für Sehnsucht, Abenteuer - und Unglücke. Wolfgang Gruben ist seit über 40 Jahren Kapitän. Ein Buch erzählt seine Geschichte. Ein Vorabdruck.
53° 42' N ++ 07° 42' E ++ deutsche Nordseeküste ++ Seenotboot "Neuharlingersiel" ++ im Winter 2006
Wenn die Seenotzentrale in Bremen auf meinem Handy den nächsten Einsatz meldet, steige ich auf mein Rad und fahre los. Zum Boot ist es nicht weit. Seit Generationen lebt meine Familie am Hafen von Neuharlingersiel, einer kleinen Fischersiedlung an der Nordseeküste. Alle Retter unserer Station wohnen in Nachbarschaft der Pier. Es dauert nur wenige Minuten, bis ich an ihre Fensterscheiben geklopft, "Jungs, geiht wieder los!" gerufen habe und wir mit unserem Seenotboot auslaufen. Unser Einsatzgebiet ist die Nordsee rund um die Inseln Spiekeroog und Wangeroog. Im Alltag helfen wir Fischern mit Maschinenproblemen, kümmern uns um verirrte Segler oder transportieren Kranke von den Inseln ans Festland. In jedem Wetter, gegen jede Windstärke laufen wir aus. Drei Mann Besatzung auf einem neuneinhalb Meter langen Boot, das nach unserer Station Neuharlingersiel benannt wurde. Ein kleines Schiff, aber wir haben Vertrauen, denn wir wissen, dass es viel aushält.
Besonders im sehr stürmischen Winter des Jahres 2006 - in dem vor den Nordergründen der Kutter »Hoheweg« sank und vier Fischer ertranken - gab es viel zu tun. Wenige Tage vor Weihnachten erhielten wir den Hilferuf einer jungen Frau von Spiekeroog, die über starke Bauchschmerzen klagte. Der Wind wehte in dieser Nacht mit zwölf Beaufort, und ich fragte die Zentrale sicherheitshalber, ob der Transport wirklich notwendig war. Als ich mit meinem Rad am Anlegeplatz ankam, riss der Sturm gerade den Weihnachtsbaum aus der Verankerung. Es wurde eine Fahrt wie auf einer Achterbahn.
Unsere Patientin, die wir wegen der meterhohen Wellen auf einer Trage angeschnallt hatten, wurde zu ihrem Leiden auch noch seekrank. Ein Martyrium. Normalerweise benötigen wir etwa 20 Minuten für die Strecke, aber in dieser Nacht dauerte es mehr als eine Stunde. Endlich in Neuharlingersiel angekommen, konnten wir nicht an unseren Liegeplatz, weil der Sturm Wassermassen in den Hafen hineindrückte. Die Kaimauer war überspült.
Also gingen wir bei einem Kutter längsseits, machten fest und trugen die junge Frau an den Netzen vorbei an Land. Eine recht wacklige Angelegenheit, aber alles ging gut. Wir kamen gerade noch rechtzeitig, denn die Reifen des wartenden Krankenwagens standen bereits ziemlich tief im Wasser. Zum Glück ging es der Kranken in der Klinik bald besser.
In einem anderen Notfall halfen wir drei jungen Seglern, die ausgerechnet auf dem ersten Törn mit ihrer neuen Yacht auf Grund gelaufen waren. Sie kamen von Borkum und wollten nach Kühlungsborn in der Ostsee, doch vor Spiekeroog war ihnen eine Sandbank im Weg. Gegen 17 Uhr trafen wir mit der Neuharlingersiel ein, konnten aber nicht viel unternehmen. Bei ablaufendem Wasser steckte der Segler so fest im Schlick, dass es unmöglich war, ihn freizuschleppen. Wir versprachen, zur Flut wiederzukommen. Als wir um kurz nach neun abends wieder eintrafen, hatte der Wind deutlich aufgefrischt. Die Wellen spritzten über Bord, und man konnte deutlich spüren, wie unwohl sich die drei jungen Männer fühlten. Erst nach mehreren Versuchen gelang es uns, die Yacht freizubekommen - und nun bemerkten wir, dass sie ein Leck hatte. Sogar ein ziemlich großes Leck, denn das Boot nahm schnell Wasser.
Die Segler begannen, mit Eimern zu schöpfen, aber auch mithilfe unserer Pumpen kamen sie nicht gegen den Wassereinbruch an. Die einzige Lösung: Wir mussten so rasch wie möglich den nahe gelegenen Hafen von Spiekeroog erreichen. Wenn es richtig kritisch werden sollte, würden wir die Männer schnell aufnehmen und das Boot eben auf Tiefe gehen lassen - aber alle wollten versuchen, es noch zu retten. Obwohl die Segler bereits bis zur Gürtellinie im Wasser standen und der Wind weiter zunahm.
Ein junger Mann bekam in den nächsten Minuten auch leichte Panikattacken, aber gemeinsam konnten wir ihn beruhigen. Wir schafften es nach Spiekeroog. Was am Ende dann doch keinen großen Erfolg brachte: Das Boot sank im Hafenbecken. Totalschaden. Freundliche Insulaner brachten den unglücklichen Seglern warme Decken, Kannen mit heißem Tee und trockene Kleidung; man quartierte sie für den Rest der Nacht im Kinderheim ein.
Die Seenotrettung hat Geschichte in meiner Familie, schon mein Großvater und mein Vater waren für die Gesellschaft im Einsatz. Auch die Tätowierung auf dem Unterarm gehört zur Tradition: Sie zeigt zwei Hände, die vor untergehender Sonne ineinandergreifen. Ich kam zur Gesellschaft, als ich vom Fischerboot auf die Fähre der Spiekeroog-Reederei wechselte, was bedeutete, dass ich nicht mehr nachts zum Krabbenfang auf See musste. Der damalige Vormann sprach mich an. Nachts gehen seit jeher die meisten Notfälle ein, und er benötigte Unterstützung. Ich willigte per Handschlag ein, das war im Sommer 1969. Seitdem bin ich dabei. Nur einmal habe ich kurz überlegt aufzuhören. Als mein jüngerer Bruder Bernhard bei einem schweren Unglück auf dem Kreuzer Alfried Krupp ums Leben kam. Aber dann dachte ich: Das macht Bernd, wie ihn alle nannten, auch nicht wieder lebendig.
Ich rede eigentlich nicht gerne über diese schreckliche Zeit. Mein Bruder, Vormann der Station auf Borkum, hinterließ Frau und fünf kleine Kinder. Maschinist Theo Fischer, der in der Nacht auf den 2. Januar 1992 ebenfalls starb, hatte drei Kinder. Zwei weitere Seenotretter wurden während des Einsatzes verletzt.
Am Neujahrstag tobte ein schwerer Sturm, und vor der niederländischen Küste war ein Frachter in Schwierigkeiten geraten. Zwei holländische Seenotrettungsboote liefen aus. Als eine Welle einen Kollegen von Bord riss, leitete man sofort eine große Suchaktion ein, an der sich Einheiten der gesamten Küste beteiligten.
Auch der Kreuzer meines Bruders. Nach zweieinhalb Stunden entdeckte ein Hubschrauber den Schiffbrüchigen in der aufgewühlten See und konnte ihn bergen. Alle Einheiten steuerten ihre Heimathäfen an.
Auf der Alfried Krupp hatte sich Rettungsmann Bernhard Runde während der Fahrt ins Suchgebiet im Gesicht verletzt und blieb unter Deck; Theo Fischer nahm seinen Platz im Ausguck ein. Mein Bruder Bernd stand - von Leinen gesichert - auf der Backbordseite des Fahrstandes. Um 22:14 Uhr wurde der Kreuzer von mehreren starken Grundseen erfasst. Er drehte aus dem Kurs, wurde von gewaltigen Wassermassen überrollt und kenterte durch.
Der Kreuzer setzte kieloben mit voller Wucht durch, dann richtete er sich wieder auf. Teile der Ausrüstung wurden aus der Verankerung gerissen und bohrten sich in die Decke. Zwei Scheiben waren eingeschlagen. Wasser drang ein und beschädigte die Elektrik. Beide Seitenmotoren stellten sich ab, die Mittelmaschine fiel aus. Ohne Elektrik, ohne Motorkraft trieb der Kreuzer manövrierunfähig im Sturm. Der Mast war geknickt, die Reling niedergedrückt, der obere Fahrstand schwer beschädigt.
Das Schrecklichste aber: Theo Fischer, der sich im Moment vor der Grundsee auf den Weg zur Maschine gemacht hatte, war nicht mehr an Bord. Eine Welle hatte ihn fortgerissen. Mein Bruder hatte die Durchkenterung überstanden, war aber verletzt. Dietrich Vehn, der sich im unteren Fahrstand befand, hatte das Fußgelenk gebrochen. Bevor das Funkgerät ausfiel, gelang es den Männern noch, einen Notruf abzusetzen. Sie schossen auch Leuchtmunition in den Himmel, die an Land gesehen wurde. Sofort lief eine große Hilfsaktion an. Ein Hubschrauber der deutschen Marine entdeckte den Havaristen um 23:50 Uhr. Zehn Bergungsversuche aber scheiterten im Orkan, die Wellen waren zu hoch. Mein Bruder hielt sich am Strecktau fest und versuchte, in der Mitte des Vorschiffes das Windenseil zu greifen. Was ihm in der schweren See und wegen der heftigen Rollbewegungen nicht gelang. Das Schiff legte sich bis zu 100 Grad auf die Seite.
Er entschloss sich, zu den Kollegen Runde und Veh zu hangeln, die sich auf dem Aufbau gesichert hatten. Bei diesem Versuch erfasste ihn eine große Welle und riss ihn fort. Das Lichtsignal an seiner Rettungsweste war noch kurz zu sehen, dann verschwand er in der tosenden See. Der Besatzung des Kreuzers Otto Schülke gelang es, eine Leinenverbindung herzustellen und den Havaristen später ins niederländische Eemshaven zu schleppen. Mit zunehmender Verzweiflung versuchten Rettungskreuzer, Einheiten von Marine, Bundesgrenzschutz und Zoll, die beiden Schiffbrüchigen zu finden. Auch die Fischer unseres Heimatdorfs Neuharlingersiel liefen mit ihren Kuttern aus, um zu helfen. Die Suche dauerte bis in die Abendstunden des 4. Januar. Dann gab es keine Hoffnung mehr.
In der Nacht des Unglücks hatte ich einen Anruf der Seenotzentrale in Bremen erhalten, gegen 3 Uhr morgens. Ich war wie betäubt. Ich wusste sofort: Bernd ist verloren. Mit dem Rad bin ich zu meiner Schwägerin gefahren, das war so unheimlich schwer, das tat so weh, ihr die Nachricht zu überbringen. Mein Vater, damals 80, wollte es nicht glauben. Dann habe ich meine Geschwister informiert. Ich bin der Älteste von acht, einer musste es machen. Zwei Tage war ich hinterher auf Null. Natürlich denke ich manchmal an meinen Bruder, wenn ich in einem Sturm auslaufe. Aber Angst? Angst habe ich nicht. Wer Angst hat, der darf nicht rausfahren. Ich habe zwei Sätze geprägt, die zu einer Art Leitspruch der Gesellschaft wurden.
Wir können das. Wir machen das.
Stefan Krücken (Text) /Achim Multhaupt (Fotos): "Orkanfahrt. 25 Kapitäne erzählen ihre besten Geschichten" Ankerherzverlag, 29 Euro. Soeben erschienen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen