Kolumne documenta: Abschied von einer Märchenstadt

Unsere Autorin, Gastarbeiterin auf der documenta, zieht ihr Resümee: Von wegen Servicewüste Deutschland!

Es ist vollbracht! Die documenta 12 geht in die letzte Woche, aber für die Wanderarbeiterin aus Berlin ist sie jetzt schon Geschichte. Zusammenfassend kann man zu Kassel, wie zur ehemaligen DDR sagen: Es war nicht alles schlecht.

Man hat die spröde, schwierige Stadt an der Fulda ein klein wenig ins Herz geschlossen. Es war schön und turbulent: Es gab nicht anreisende Köche, nicht blühende Mohnfelder, einstürzende Kunstwerke, abrutschende Reisterrassen. Es gab viel Rauch um nichts, um Palmenhaine, Zaubergärten, Kronkorken - aber was solls? Klappern gehört zum Handwerk; und wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen, wie Johann Wolfgang schon sagte. Versöhnt will man diesen schwierigen und doch erlebnisreichen Lebensabschnitt nun hinter sich lassen, blättert noch ein letztes Mal durch aktuelle Kunstzeitschriften und vernimmt den nörgelige Abgesang auf die documenta.

In der Kunstzeitung versteigt man sich sogar zu der irrigen These die Zeit der documentas - oder heißt es documenten, documenti oder documentä? - in Kassel, die Nachkriegszeit sei vorbei, die Kunstschau gehöre nun an einen anderen Ort.

Wie bitte? Sind die denn jetzt völlig durchgedreht? Wo anders spannt sich der unwirkliche Himmel so schön über den Ausstellungsorten als im märchenhaften Kassel, wo man ganze Märchentorten herstellt und den nackten Herkules in Vollmilchschokolade nachbacken und mit Goldstaub einpudern lassen kann? Gastliche Märchenwelt Kassel! - so bewirbt das berühmte Oma-Szenecafé "Nenninger", die Trost- und Rettungsstelle der vergangenen Wochen, seine märchenhaften Thementorten.

Märchenhaft verwunschenes Kassel! Wo die Brüder Grimm wohnten, deren Andenken man hier allerdings nicht sehr hochhält, und wo man zum "Märchenfest" nichts als eine Kinderschminkecke und Frau-Holle-Ausstellung aufbaut.

Liebe sinnlos in Kassel herumschweifende KuratorInnen, will sich nicht mal jemand um das Brüder-Grimm-Museum kümmern, das, um im Bild zu bleiben, ein kärgliches Aschenputteldasein direkt neben der neuen Galerie führt? Man könnte doch auch da mal so gendermäßig rangehen und aufdecken, dass die Brüder selbst die Märchen gar nicht gesammelt haben, sondern die Zuträgerin Dorothea Viehmann im elterlichen Wirtshaus, der sogenannten "Knallhütte" die Sammlerin war. Wurde sie nicht von der Märchenforschung, von der männlichen Geschichtsschreibung (vgl.: His-story!) arg marginalisiert, während die männlichen Karrieretypen Jakob und Wilhelm den Erfolg einstrichen? Das wäre doch mal eine spannende Arbeit!

Ach, man konnte viel lernen in diesen harten Containerwochen, viel über die Kunst an sich, viel über den Menschen als solchen. Da hat sich doch hierzulande das dumme Wort von der "Servicewüste Deutschland" eingebürgert, nach rund sechzig Tagen im Dienstleistungssektor kann man darauf nur antworten: Von wegen Servicewüste! - Deutschland ist ein Feuchtbiotop für Nörgler und Muffler.

Es gab sehr viele liebenswürdige Kunden, aber die kamen meistens aus dem Ausland. Es kamen auch reizende Senioren aus dem nordhessischen Umland, charmante kunstaffine Schwäbinnen mit auffälligen Ohrringen, aber das Gros der deutschen Kundschaft, darunter vor allem der deutsche Mann und seine Gattin aus der gehobenen Mittelschicht, ist im Umgang erbärmlich. Nach sechs Wochen schwant einem, was die armen VerkäuferInnen in Deutschland alles aushalten müssen. Um diese und andere Einsichten reicher, mit wenig Wehmut und großer Reiselust verlassen wir also Kassel und den weißen Container am Friedrichsplatz.

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