Zukunft der IG Metall: Das neue Selbstbewusstsein
Die neue Führung unter Berthold Huber bringt neue Offenheit in die IG Metall. Und sie löst den autoritären Führungsstil von Jürgen Peters ab.
LEIPZIG/ BERLIN taz Religiöse Metaphern sind gerade in Mode. Die Reformen der Agenda 2010 gelten in der SPD neuerdings nicht mehr als "die Zehn Gebote", bei deren Auslegung sich niemand als "Moses" betrachten dürfe. Und auch Berthold Huber, der neue Chef der IG Metall, benutzte eine religiöse Metapher, um ein Heiligtum zu hinterfragen. Die 35-Stunden-Woche sei "keine Monstranz, die man vor sich hertragen kann", sagte Huber. "Wir brauchen eine neue Arbeitszeitdebatte!", erklärte er. Und als die 501 Delegierten ziemlich verdutzt dreinblickten, schob Huber nach: "Ja, die brauchen wir! Sie muss aber ehrlich sein!"
Die Personalentscheidung: Berthold Huber (57) wurde mit dem besten Ergebnis eines Vorsitzenden seit 35 Jahren Chef der IG Metall: Er erhielt 92,6 Prozent der Stimmen. Zum neuen Vizechef wurde Detlef Wetzel (54) mit 87,4 Prozent gewählt. Im geschäftsführenden Vorstand bestätigt wurden Bertin Eichler (55) Regina Görner (57) und Wolfgang Rhode (56). Neu sind Helga Schitzer (56) und Hans-Jürgen Urban.
Die Arbeitszeitdebatte: Huber hat die 35-Stunden-Woche hinterfragt. Die Arbeitszeitfrage von heute lasse sich nur mit differenzierten Antworten lösen, sagte Huber auf dem Gewerkschaftstag in Leipzig und forderte eine neue Arbeitszeitdebatte. Die Differenz zwischen der durchschnittlichen effektiven Arbeitszeit von 39,9 Stunden und der tariflichen Arbeitszeit von 35 Stunden sei so groß wie noch nie. Über diesen Vorstoß diskutierten am Freitag auch die Delegierten des Gewerkschaftstags.
Die Tarifrunde: Hohe Lohnforderungen hat die IG Metall für die nächste Tarifrunde 2008 mit dem Arbeitgeberverband Gesamtmetall angekündigt. Die Zeichen stünden "auf starken Lohnzuwächsen, weil es vielen Branchen gut bis ausgezeichnet geht", sagte Huber.
Das Bonmot: "Wer den Zeitgeist heiratet, wird bald Witwer sein." (Jürgen Peters)
Die 35-Stunden-Woche: Nichts trennt die alte Ära des scheidenden Vorsitzenden Jürgen Peters von der neuen Ära unter Berthold Huber so sehr wie der Umgang mit ihr. Sie steht für unterschiedliche Denkweisen.
Huber geht die Debatte um die 35-Stunden-Woche ohne Dogmatismus an, weil der "tariflichen Wochenarbeitszeit von 35 Stunden eine durchschnittliche effektive Arbeitszeit von 39,9 Stunden gegenübersteht". Oder, wie es ein Kenner aus dem Arbeitgeberlager erklärt: "Huber lässt die Schere zwischen Rhetorik und Realität nicht sehr groß werden."
Jürgen Peters dagegen spielte Moses, als er die 35-Stunden-Woche 2003 in Ostdeutschland durchdrücken wollte. Er wollte, dass das "erste Gebot" des Westens allgemeingültig wird. Er scheiterte aber gnadenlos, weil die 35-Stunden-Woche nichts zu tun hatte mit der betrieblichen Wirklichkeit im Osten. Dort waren sie froh um jeden Arbeitsplatz - und nahmen dafür auch längere Arbeitszeiten gerne in Kauf. Peters war als 2. Vorsitzender verantwortlich für diese Tarifpolitik, die die größte Krise der Gewerkschaft heraufbeschwor. Der damalige 1. Vorsitzende Klaus Zwickel wollte Peters daraufhin als Nachfolger verhindern. Es folgte ein monatelanges Personalgezerre: Am Ende setzte sich Peters durch und wurde Chef. Im Tandem mit Berthold Huber, der vier Jahre im Wartestand ausharren musste. Und jetzt Chef ist.
Realität statt Rhetorik
Ob Hubers Realitätssinn beim Thema Arbeitszeit ankommt? "Dass Huber eine ehrliche Debatte einfordert, ist bemerkenswert und mutig", sagt Hartmut Tammen-Henke, 1. Bevollmächtigter der Verwaltungsstellen Oldenburg und Wilhelmshaven. "Seine Analyse trifft die differenzierte Wirklichkeit in den Betrieben." Genau das will Huber. Differenzierte Lösungen für alle. Für den Fließbandarbeiter und den Mann am Stahlofen ebenso wie für den IT-Spezialisten bei Siemens oder den Ingenieur in der Entwicklungsabteilung von Audi. Die einen sind nach einem 7-Stunden-Tag am Ende - "jede Minute zusätzlicher Arbeitszeit ist hier eine Zumutung", sagt Huber. Für die Ingenieure, die auch mal 12 Stunden arbeiten, wenn es das Projekt verlangt, will er Ideen wie Arbeitszeitkonten forcieren. Und so die 35-Stunden-Woche verteidigen.
Doch Hubers Kurs ist nicht unumstritten. Denn viele Gewerkschafter glauben, die Arbeit müsse angesichts der zunehmenden Rationalisierung auf mehrere Schultern verteilt werden. Nur ein Beispiel: Die IG-Metaller aus Herborn und Bremen forderten in Anträgen auf dem Gewerkschaftstag die 30-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich.
Auch wenn die IG Metall ihren Chef auf dem heute zu Ende gehenden Gewerkschaftstag feiert, wird sie sich noch wundern, mutmaßt mancher Funktionär. "Das ist wie bei einer Rakete. Die erste Stufe hat Huber auf dem Gewerkschaftstag gezündet, andere werden folgen", sagt ein Gewerkschafter aus dem Huber-Wetzel-Lager. "Viele haben noch gar nicht kapiert, was der Führungswechsel eigentlich bedeutet."
Zunächst einmal bedeutet der Führungswechsel, dass mit Huber und dem neuen 2. Vorsitzenden Detlef Wetzel ein echtes Team an der Spitze der IG Metall steht. Peters und Huber dagegen waren eine "professionelle Vernunftehe" eingegangen, wie ein Funktionär sagt. Huber und Wetzel stehen für eine flexiblere Handhabung des Flächentarifs, für modernes Organisationsmanagement, für offensive Mitgliederwerbung. Und sie ergänzen sich gut. Davon sind viele Funktionäre überzeugt: "Huber ordnet eine Idee in den gesamtgesellschaftlichen Rahmen ein. Wetzel dagegen fragt: Was bedeutet das für das einzelne Mitglied?", sagt einer, der beide gut kennt.
Und: Sowohl Huber als auch Wetzel scheuen sich nicht davor, vom einst rigiden Zentralismus der IG Metall Abstand zu nehmen - sie stärken die Verantwortung der Betriebsräte, sie wollen die Belegschaften aktivieren. Nur so, lautet die Analyse, kann der Mitgliederschwund von 2,64 Millionen im Krisenjahr 2003 auf derzeit 2,32 Millionen Mitglieder gestoppt werden.
In Wetzels Bezirk Nordrhein-Westfalen zählt die IG Metall 600.000 Mitglieder, in den Betrieben gewinnt sie wieder neue hinzu. Wolfgang Schlabach, 52, ist der Betriebsratsvorsitzende der Firma SMS Demag, die Walzwerke für die Stahlindustrie herstellt. Wetzel hat einst in seinem Betrieb gelernt. Schlabach erzählt von den neuen Methoden der IG Metall, die der neue Vorstand vorantreiben wird. Der Betriebsrat entscheidet in der Firma mittlerweile bei Themen mit, die früher der Geschäftsführung vorbehalten waren. Er fordert Budgets für neue Entwicklungen oder berät bei der Besetzung von Abteilungen. "Ein Bereichsleiter stellt in der Regel eher einen Diplomingenieur ein, statt einem technischen Zeichner Aufstiegschancen durch zusätzliche Qualifizierung zu ermöglichen", sagt Schlabach. "Dabei ist ein hoch motivierter technischer Zeichner für manche Aufgaben schlicht besser geeignet. Weil wir solche Aufstiegschancen durchsetzen, gewinnen wir Neue hinzu."
Die Gewerkschaft nimmt in der ländlichen Region bei Siegen neue Mitgliedergruppen ins Visier: In Berufsschulen wirbt sie um nichtorganisierte Azubis, gut bezahlte außertariflich Beschäftigte ködert sie, indem sie die zunehmende Leistungsverdichtung thematisiert. "Für die Angestellten in den Büros ist das ein großes Problem. Früher musste ich jede Schraube in einer Zeichnung selbst skizzieren. Heute macht das der Computer in Sekunden. Der Angestellte arbeitet also ununterbrochen kreativ", sagt Schlabach. Mit Kampagnen wie "Besser statt billiger" kämpft die Gewerkschaft um mehr Qualität und bessere Qualifizierung und animiert die Beschäftigten, selbst Vorschläge für effektivere Abläufe zu machen. "Als Sozialplanverhandler kommen wir doch immer zu spät. Wir mischen uns jetzt frühzeitig in die wirtschaftlichen Entscheidungen ein, um Entlassungen oder Verlagerungen mit Erfolg zu verhindern", sagt Schlabach.
So klingt das neue Selbstbewusstsein der IG Metall. Im Moment verhandeln Schlabach und seine Kollegen über ein Lebensarbeitszeitkonto. Jede Stunde über der 35-Stunden-Woche wird gut geschrieben, in Geld umgerechnet und verzinst. Wenn der Arbeiter ein Sabbatical nehmen will oder den gleitenden Ausstieg plant, wird das Kontoguthaben wieder in Zeit umgerechnet. Ab 1. Januar soll die Regelung gelten.
Und dass nach Wetzels Weggang aus NRW die Kontinuität gewahrt wird, dafür haben die Reformer schon gesorgt: Als aussichtsreichster Kandidat für die Übernahme des mitgliederstärksten NRW-Verbandes gilt dem Vernehmen nach Oliver Burkhard. Bisher hat der 35-Jährige die Abteilung Tarifpolitik beim Vorstand in Frankfurt verantwortet. Er gilt als Ausnahmetalent. Und ist Vertrauter von Huber.
"Unter Huber wird sich das Klima in der IG Metall ändern: Die Diskussionen werden offener und sachorientierter geführt werden", sagt ein Verwaltungsstellenleiter. Bei Vorgänger Jürgen Peters, dessen Führungsstil viele Gewerkschafter als "autoritär" bezeichnen, habe die Devise dagegen gelautet: "Da geht es lang. Wer folgt mir?"
Kritiker bleiben draußen
Ein Beleg für das autoritäre Führungsverständnis war auch die Aussperrung der taz vom Gewerkschaftstag. "Unter Peters wäre die taz auch weiterhin draußen geblieben", sagt ein Funktionär. Dass die taz dann doch aus Leipzig berichten durfte, lag an einer Intervention des gerade frisch gewählten 1. Vorsitzenden Berthold Huber. Denn der wusste gar nichts von dem Vorgang, wie jetzt bekannt wurde. Offenbar traf die Entscheidung Georgios Arwanitidis, der Leiter der Pressestelle und ein enger Vertrauter von Jürgen Peters, im Alleingang. "Nicht ohne Rücksprache mit Peters", mutmaßt einer. Aber an Huber vorbei. "Der wusste von nichts - und fiel aus allen Wolken", sagt ein IG-Metall-Mitarbeiter, der Huber von diesem Vorgang unterrichtete. Zu einem Zeitpunkt, als die Nachrichtenagenturen schon darüber berichteten. Nach taz-Informationen informierte Pressechef Arwanitidis kurz zuvor noch alle anderen Sprecher, wohl um sich Rückendeckung zu verschaffen. Doch die Sprecher der Bezirke Bayern, Baden-Württemberg, Küste und Nordrhein-Westfalen verweigerten die Gefolgschaft. Die Kündigung der taz-Abos wegen des Artikels mit der Überschrift " 'Stalins' Erbfolge", die Ausladung zweier taz-Redakteure: "Das ist doch Kindergeburtstag", kritisierte einer.
Doch es war nicht die einzige Ausladung, die Arwanitidis vollzog. Ein weiteres Opfer: Hans-Peter Müller, Wissenschaftler an der Fachhochschule für Wirtschaft in Berlin. Müller wollte sich im Auftrag der Zeitschrift Politische Meinung akkreditieren lassen. Doch Arwanitidis schrieb ihm zurück: "Für den Gewerkschaftstag der IG Metall werden Medienvertreter akkreditiert, deren Arbeitsschwerpunkt hauptsächlich journalistischer Natur ist. Leider erfüllen Sie diese Voraussetzungen nicht." Doch das war nicht der wirkliche Grund. Als die Redaktion der Politischen Meinung ihr Befremden über Arwanitidis Reaktion ausdrückte, schrieb der IG-Metall-Pressechef noch mal zurück: Müller habe 2003 seine Zulassung als Pressevertreter auf dem Gewerkschaftstag der IG Metall im Herbst 2003 in Hannover "für persönliche Zwecke missbraucht, indem er als Wissenschaftler und Gewerkschaftsforscher private Pressekonferenzen für Medienvertreter abgehalten hat". Und: "Für politische, wissenschaftliche und private Selbstdarstellung muss sich Herr Dr. Müller andere Foren suchen."
"Das Gute an Huber und Wetzel ist, dass sie die Presse nicht zum Feindbild erklären", sagt ein Kenner. Anders als Peters, soll das heißen. Der ausgeladene Müller mutmaßt, die Peters-Fraktion wollte "alles Missliebige und Kritische draußen halten". Offenbar wollten sie Revanche nehmen für eine Analyse, die er, Müller, und sein Kollege Manfred Wilke 2004 veröffentlicht hatten. "Quo vadis, IG Metall?", so der Titel des Buchs, das sich mit dem verlorenen Oststreik und dem Machtkampf an der IG-Metall-Spitze beschäftigte. Darin heißt es über Jürgen Peters: "Die IG Metall steht nunmehr ebenfalls für ein Verhalten, wonach man in Spitzenpositionen auch für eklatante Fehlentscheidungen keine persönlichen Konsequenzen mehr zu ziehen braucht, wenn man sich nur beharrlich genug dagegenstemmt."
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