die wahrheit: O Lokführer, du weißer Ritter des stiebenden Stahls
Dir, o Lokführer, das hohe Lied des Lobes zu singen, ist die Zeit mehr als gekommen. Du Held des starken Armes, der Millionen Räder stillstehen lässt...
... Du weißer Ritter des stiebenden Stahls, dessen mächtiger Funkenschlag uns, die wir gern am eiskalten Bahnsteig schier endlos auf einen verspäteten Zug warten, stets die frohe Botschaft kündet: Na endlich, da kommt er ja!
Gerechtigkeit soll dir widerfahren, nicht nur im Geldbeutel. Auch tief in ihren Herzen sollen die Menschen, die du im Lande spazieren fährst, den dir eigenen Wert erkennen. Warum du, o Lokführer, wenigstens die Hälfte eines Pilotenlohns erhalten solltest, wo du doch das Doppelte verdient hast, allein für den ästhetischen Gehalt deiner Gestalt.
Bewundernde "Aaahs" und "Ooohs" begleiten dich, wenn du durch die Wandelgänge der hohen Bahnhofshallen an deinen zugigen Arbeitsplatz schreitest und dabei all deine Verachtung für die oft beneideten Flugpiloten zeigst. Dann hast du dich in deine weiche Schale geworfen, denn du brauchst keine Uniform: den klaren Blick behütet von der dunklen Nappakappe; das kantige Gesicht umrahmt von einem Schichtstoppelbart; die trummige Figur gerüstet mit einer abgeschabten Lederjacke; an den pedalbreiten Füßen sommers wie winters ehemals weiße Turnschuhe; aus der kackbraunen Aktentasche die keck herausragende bunte Plastikthermoskanne - warum bloß ist noch kein Modeschöpfer auf die Idee gekommen, deine Accessoires für eine Kollektion zu nutzen? Ständig diese schnöden Pilotenbrillen und -uhren - wie langweilig! Her mit dem dampfenden Parfum "Loco for Women"!
Was sind schon Honolulu oder Singapur, was Buenos Aires oder Addis Abeba gegen den zauberhaft poetischen Klang deiner Zielorte: Mettmann, Wanne-Eickel und Eisenhüttenstadt. Du, o Lokführer, durchquerst von der märkischen bis zur holsteinischen die deutschen Schweizen, während die langweiligen Überflieger nichts als ödblauen Himmel sehen und immer wieder Wolken, nichts als Wolken.
Du stehst mit beiden Beinen auf dem eisernen Boden deines Stahlrosses. Nur du, o Lokführer, kannst daher ein echter literarischer Held sein. Piloten - das sind vergnügliche Figuren in Lustspielen der US-amerikanischen Traumindustrie, das sind Hallodris und Heiratsbetrüger. Doch du, o Lokführer, bist Protagonist naturalistischer und realistischer Romane und erzählst uns aus deiner herrlich rumpelnden Welt, vom Auf- und Niedergang der menschlichen Existenz. Und du bist Lukas, der Lokomotivführer - ein Name wie in Stein gemeißelt! Mehr muss dazu nicht gesagt werden.
Gewiss ist nicht alles Gold, was an dir glänzt. So schätzen die gemeinen Damen eher Piloten, weil sie eben den schönen Schein mögen. Damit kannst du nicht dienen. Dafür bringst du gut hunderttausend Pferdestärken unter deinem festen Gesäß mit ins Rennen. Allerdings solltest du, o Lokführer, bevor du mal wieder mit verschränkten Armen aus dem Fenster deines Führerhäuschens hängst, ruhig das ewig gleiche T-Shirt mit den Kaffeeflecken wechseln. Dann könnte es doch noch etwas werden mit der Damenwelt.
Und notfalls, o herrlicher Lokführer, notfalls erstreikst du dir einfach eine von ihnen.
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