Debatte Kosovo: Domino der Sezessionen

Über den künftigen Status des Kosovo sollte allein der UN-Sicherheitsrat entscheiden. Die USA wollen ihn umgehen. Dann droht auf dem Balkan eine neue Kettenreaktion.

Was macht eine Lösung der Kosovofrage so dringlich? Die Unruhen in der Krisenprovinz vom Frühjahr 2004 waren ein Schlüsselereignis: Drei Tage lang herrschte Aufruhr, es gab 21 Tote, mehr als 600 von Serben bewohnte Häuser wurden zerstört, Dutzende orthodoxer Kirchen und Klöster geplündert und niedergebrannt. 4.000 Serben flohen oder wurden vertrieben, diesmal unter den Augen von 18.000 verschreckten Nato-Soldaten. Mit Gewalt riefen die Kosovo-Albaner damit ihr Anliegen - einen eigenen Staat - wieder in Erinnerung. Die internationale Politik setzte daraufhin die zähen Verhandlungen in Gang, die am 10. Dezember enden sollen.

Seit drei Jahrzehnten ist in der Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa festgelegt, wie mit dem Wunsch nach einer Grenzrevision umzugehen ist. Danach sind staatliche Grenzen zwar nicht unveränderbar, aber sie sind unverletzlich. Es gilt das Recht auf Selbstbestimmung, aber es ist der Pflicht zum Gewaltverzicht nachgeordnet. Wer neue Grenzen ziehen und neue Staaten gründen will, muss den Weg politischer Verständigung gehen. Die Vereinigung Deutschlands kam so zustande, die Zerstückelung Jugoslawiens nicht. Der Neuzuschnitt des Balkans ist das Ergebnis der jugoslawischen Teilungskriege. Ob wenigstens der letzte verbliebene Streitpunkt, der Status des Kosovo, friedlich beigelegt werden kann, erscheint derzeit wieder mehr als fraglich.

Zwischen den Kontrahenten vor Ort verläuft die Front unverändert. In Serbien stellt der Anspruch auf das Kosovo eine Konstante nationaler Politik dar. Auch die Opposition, auch das gesellschaftliche Spektrum einschließlich der orthodoxen Kirche halten daran fest. Umgekehrt ist die Position der Kosovo-Albaner. Die moderaten Kräfte in der Tradition Rugovas und die politischen Nachfahren der UÇK sind innenpolitische Gegner. Doch für beide kommt die Rückkehr ihrer Provinz unter serbische Oberhoheit nicht mehr in Frage.

Die meisten westlichen Regierungen favorisieren den Vorschlag des früheren UN-Vermittlers Martti Ahtisaari. Er sieht die Eigenstaatlichkeit des Kosovo unter fortdauernder internationaler Aufsicht vor. Der Plan bricht mit der geltenden UN-Resolution 1244 vom Juni 1999. Danach soll die Provinz autonom, aber gerade nicht souverän werden. Der Staatengemeinschaft fiele dann die Verantwortung zu, für Leben und Unversehrtheit der nichtalbanischen Minderheiten zu sorgen. Allzu viele Menschen gehören nicht mehr dazu. Das Problem scheint beherrschbar, solange noch eine internationale Zivilautorität existiert und sich genügend ausländische Sicherheitskräfte im Land befinden. Aber die überwachte Unabhängigkeit ist nur als Zwischenphase gedacht. Irgendwann wird sie enden. Was dann?

Rund 40.000 Kosovo-Serben leben in Nordmitrovica. Das Gebiet grenzt an Serbien, es hat fast keine albanischen Bewohner mehr und untersteht faktisch nicht den kosovo-albanischen Behörden. Soll es Teil eines unabhängigen Kosovo werden oder nicht? Wenn sich die Statusregelung schon darin erschöpft, ein Fait accompli festzuschreiben, warum dann nicht noch ein zweites festschreiben? Die Zahl der übrigen Serben im Kosovo wird auf 70.000 bis 90.000 geschätzt. Sie leben in den Enklaven im Landesinnern. Hier hilft kein kartografischer Kunstgriff. Nachdenken ließe sich aber über ein umfassendes Hilfsprogramm, das Umsiedlungswilligen die nötige Unterstützung bietet, sich in Serbien eine neue Existenz zu schaffen.

Der Status eines strittigen Territoriums, den die Vereinten Nationen definiert haben, kann nur durch die Vereinten Nationen verändert werden. So sieht es die Regierung in Moskau, und fast alle Völkerrechtler stimmen ihr zu. Insofern erscheint es müßig, zu spekulieren, wie sich der Sicherheitsrat in New York umgehen lässt. Gleichwohl ist dies ein prominenter Strang der aktuellen Kosovodebatte. Die USA erörtern, die Eigenstaatlichkeit der Provinz dadurch herbeizuführen, dass eine oder mehrere Regierungen eine mögliche einseitige Unabhängigkeitserklärung des gerade neu gewählten provisorischen Parlaments in Prshtina diplomatisch anerkennen.

Der Vorgang würde formale und politische Fragen aufwerfen. Welche Aufgabe hätte dann die internationale Administration - als derzeit oberste Autorität - im Kosovo? Müsste sie die Proklamation für null und nichtig erklären, vielleicht die Urheber festsetzen? Und könnte sie dabei auf die Unterstützung der KFOR zählen? Oder stünde deren Zerfall in loyale und illoyale Kontingente zu befürchten? Außenminister Steinmeier erklärte vorsorglich, Berlin bestehe auf einem Beschluss über das Kosovo im UN-Sicherheitsrat. Die dorthin entsandten Soldaten, darunter 2.500 deutsche, seien auf eine sichere Rechtsgrundlage angewiesen.

Europa wird die Folgen jeder künftigen Regelung zu tragen haben. Deshalb liegt es in seinem Interesse, dass die Entscheidung einvernehmlich fällt und keine neuen Gräben aufreißt. Dazu gehört vor allem, Moskau ins Boot zu holen. Mit der Auflösung eines Vielvölkergebildes hat es einschlägige Erfahrungen. Der Zusammenbruch der Sowjetunion verlief weniger turbulent als der Kollaps Jugoslawiens. Aber er hat offene Sezessionskonflikte hinterlassen. Der Schwerpunkt liegt im Kaukasus. Keiner der Konflikte ist lösbar ohne die Mitwirkung Russlands. Der Ausgang der Kosovofrage wird auf sie ausstrahlen.

Die größte Gefahr für Frieden und Stabilität droht jedoch auf dem Balkan selbst. Die alten Gespenster nationalistischen Übermuts sind zurückgekehrt. An den Rändern des Kosovo leben revisionistische Parolen wieder auf. Im südserbischen Presevo-Tal bilden Albaner die Bevölkerungsmehrheit: ihre Vertreter nennen das Tal jetzt schon "Ostkosovo" und fordern die gemeinsame Unabhängigkeit mit ihren kosovarischen Brüdern. Im benachbarten Mazedonien häufen sich bewaffnete Zusammenstöße albanischer "Freiheitskämpfer" mit staatlichen Sicherheitskräften. Genauso hatten 2001 die Auseinandersetzungen begonnen, die das Land an den Rand eines Bürgerkriegs trieben.

Als zerbrechlichster unter den Balkanstaaten gilt Bosnien-Herzegowina. Hier schwelt eine schwere Verfassungskrise. Die muslimischen Bosnier betreiben die Abschaffung der serbischen Autonomie. Im Gegenzug spielen die bosnischen Serben mit dem Plan eines Referendums über den Anschluss ihrer Teilrepublik an Belgrad. Die einseitige Loslösung des Kosovo von Serbien würde ihnen Auftrieb geben. Noch vor Monatsfrist hing über Haris Silajdzic und Milorad Dodik, den beiden populärsten Politikern im Land, das Damoklesschwert der Amtsenthebung per Dekret durch den Statthalter der Staatengemeinschaft. Leicht könnte aus den glimmenden wieder ein lodernder Brandherd werden - schlimmstenfalls mit Amerika auf der einen und Russland auf der anderen Seite des Konflikts. Europa stünde dann ratlos dazwischen.

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