Junge Obdachlose: "Schnorren ist auch eine Arbeit"
Jugendliche, die auf der Straße leben, leiden zunehmend unter Hunger. Das ist das Ergebnis einer neuen Studie. Auch die psychische Belastung steige. Die Folge: Suff und Selbstmordversuche.
Mit 13 Jahren ist Max von zu Hause weggegangen, drei Jahre ins Heim, dann auf die Straße. "Ich hab mir das ausgesucht", sagt er. Mal wohnt er bei Freunden, mal in einer Wagenburg, dann wieder in einem besetzten Haus. "Ich finde immer irgendwo eine Bude." Der 21-Jährige trägt Lederjacke, Irokesenschnitt und um den Hals eine Eisenkette. Vier Hunde scharwenzeln um ihn herum. Früher habe er sich oft geprügelt, drei Monate saß er in Haft; heute distanziert sich der Punk von der Rauferei. Er habe sein Leben im Griff - auch wenn das Leben auf der Straße nicht einfacher geworden ist.
Im Gegenteil: Straßenjugendliche leiden stärker unter Hunger und psychischen Belastungen als noch vor sieben Jahren. Zu diesem Schluss kommt eine neue Studie, die vom Institut für Sozialforschung, Informatik und Soziale Arbeit (Isis) erarbeitet wurde. Am Mittwoch wurde sie im Kontaktladen für junge Menschen auf der Straße (klik) in Mitte vorgestellt. "Die Situation der 18- bis 21-Jährigen hat sich verschärft", sagt der Sozialwissenschaftler Vincenz Leuschner vom Isis. Als einer von mehreren Institutsmitarbeitern hat er mit Studenten, Sozialarbeitern und klik-Mitarbeitern 156 Menschen zwischen 14 und 30 Jahren befragt, die ihren Lebensmittelpunkt auf der Straße haben. Dazu waren sie mit Fragebögen unter anderem zum Alexanderplatz, zum S-Bahnhof Frankfurter Allee und zum klik gefahren. Vorbild war eine ähnliche Studie aus dem Jahr 2000.
Vor allem Gewalt in der Familie treibt Jugendliche auf die Straße, ergab die Untersuchung. Wie viele Straßenjugendliche es in Berlin gibt, weiß niemand genau. Nach Schätzungen des Senats leben 1.800 Minderjährige überwiegend auf der Straße, sagte Gerhard Wenzke vom Isis.
Erstaunt waren die Wissenschaftler über ein Problem, das vor sieben Jahren nicht in diesem Maße aufgetaucht war: Hunger. 80 Prozent der Befragten leiden häufig oder manchmal unter Hunger. "Ich stehe jeden Morgen hungrig auf", erzählt auch Max. Statt zu frühstücken, gehe er ein paar Euro "schnorren", um seinen Hunden Essen zu kaufen. "Erst das Hundefutter, dann das Menschenfutter" - so lautet ein Motto der Szene. Das "Schnorren" sei oft kein Spaß, etwa wenn auf die zweite Frage: "Schenkst du mir wenigstens ein Lächeln?", nur die Antwort: "Arschloch" zurückkomme. "Schnorren ist auch ein Arbeit", findet Max.
Laut der Studie haben die Straßenjugendlichen auch verstärkt mit psychischen Problemen zu kämpfen. Mehr als ein Drittel der Befragten hat einen Selbstmordversuch hinter sich, zwei Drittel haben sich schon einmal selbst verletzt. Viele versuchen sich mit Alkohol zu betäuben. Die Mehrheit der befragten Straßenjugendlichen trinkt jeden Tag.
Kritik äußerten die Wissenschaftler am Fehlen staatlicher Unterstützung. Die meisten Straßenjugendlichen bezögen zwar Arbeitslosenunterstützung, aber nur wenige bekämen einen Job vermittelt. "Es ist ja leichter, Geld herüberzureichen", sagt Gerhard Wenzke.
Mit seinen Eltern in Berlin hat Max inzwischen wieder Kontakt. Die unterstützen ihn zwar nicht finanziell, dafür aber "seelisch". Außerdem fühlt er sich im Kontaktladen in der Torstraße gut aufgehoben. Er weiß, dass er dort essen, duschen und mit anderen Straßenjugendlichen Zeit verbringen kann. "Keiner braucht sich mehr Sorgen zu machen", sagt er und klingt dankbar.
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