die wahrheit: Tödlicher Vogelschlag
Geheimwaffe der Nazis entdeckt: Tausende von Enten legen das englische Brighton lahm.
Es ist ein Bild für die Götter - Englands Birdwatcher sind aus dem Häuschen: Am Strand, auf den alten Landungsstegen, auf Straßen, Dächern, in den Vorgärten: überall Knäckenten. "Wie bei Hitchcock!", sagt eine Anwohnerin. "Hier geht nichts mehr - eine Katastrophe!"
Zum Glück verhalten die Enten sich nicht blutrünstig. Sie stehen einfach dumm in der Gegend herum und blockieren alles. Vorsichtig schieben freiwillige Helfer die schwerfälligen braunen Tiere zur Seite, damit wenigstens Versorgungsfahrzeuge im Schneckentempo passieren können.
"Sensationell! Knäckenten gibts hier sonst nie!", erklärt ein rotnasiger Mann in einer Barbour-Jacke, auf sein dickes Fernglas gelehnt wie auf einen Bartresen. Sonores Dauerschnattern liegt wie Störbrummen über allem hier in Brighton.
Auch rund 1.000 Kilometer weiter östlich steht die Knäckente unter Beobachtung - von Profis. "Knäck-Projekt" heißt das Beringungs- und Satellitenobservierungsvorhaben zur Erforschung des Vogelzugverhaltens. Im Kontrollzentrum in der Hakeburg in Kleinmachnow südwestlich von Berlin herrscht helle Aufregung.
"Warum beobachten Sie gerade die Knäckente?", wollen wir wissen. Hannes Krick von der Arbeitsgemeinschaft Berlin-Brandenburger Ornithologen (ABBO) erklärt: "Eine Knäckebrotfirma sponsert das. Die Knäckente ist ein Zugvogel. An ihr kann man ideal Zugverhalten beobachten. Aber ich habe nicht die geringste Ahnung, was da jetzt in England los ist. Die Briten untersuchen gerade die Ringe mit den Mikrosendern."
Es ist wie in einem "James Bond"-Film. Auf dem großen Knäckentenschirm im Hauptraum der Hakeburg wabert nur ein einziger Fleck: Brighton. Während die Zugvogelforscher über den Konsolen brüten und sich bemühen, hinter das seltsame Verhalten ihrer Schützlinge zu kommen, führt uns Krick ohne viel Federlesens in den Kern der alten Anlage, das "Enten-Ei", wie sie die ovale Kammer nennen. "Hier war die Forschungsstelle des Reichspostministeriums, wo die Nazis Hochfrequenzgeneratoren und primitive Richtfunkanlagen entwickelten. Wir nutzen bloß die Antennenschüssel auf dem Dach." Dicke Kabelbündel schlängeln sich durch den Bau.
Ein Techniker kommt und berichtet atemlos: "Englische Amateurfunker hören ein seltsames Nazi-Lied auf der alten Enigmafrequenz. Ist es möglich, dass die E-Ringe nicht nur senden, sondern auch empfangen?" Krick kratzt sich am Kopf. Jeder Sender ist im Prinzip auch ein Empfänger. Alle verfolgen gespannt, wie Krick die Kabel betastet und sagt: "Erst die Legion Kondor, dann der Fieseler Storch - und zuletzt: Lame Duck. So hat Hitler die allerletzte Geheimwaffe der Nazis genannt. Davon wussten nur er und sein Rüstungsminister. Das war so geheim, dass sie einen englischen Namen für die Waffe wählten. Hitler aber konnte nur schlecht Englisch und dachte Lame Duck heißt 'Letzter Schlag'. Dass die jedoch was mit Enten vorhatten, glaube ich nicht."
Er hat zwei Kabelstränge entdeckt, die von einem Verteilerschrank zu zwei ganz unterschiedlichen Kästen an den Wänden führen. "War hier nicht vorgestern einer dran, um Strom für den neuen Getränkeautomaten abzuzweigen?" Der Techniker druckst herum und bestätigt dann, dass jemand am Kasten herumgeschraubt habe. Dabei sei die Hauptsicherung rausgeflogen.
Krick stürzt auf den Kasten zu und reißt die Tür auf. Transistorröhren leuchten funzelig im Innern. Eine uralte kleine braune Maschine dreht ihre Walze. Es bitzelt, während Stromabnehmerbürsten an Stiften auf- und abfahren. Ein Zählwerk zeigt eine achtzehnstellige Ziffer. Krick wischt den Staub weg. "Das sind die Koordinaten von Brighton! Die Richtstrahlen haben die Knäckenten von ihrer normalen Zugroute weggefegt, die E-Ringe wie kleine Stabmagneten erfasst und sie allesamt ins eingestellte Zielgebiet gelenkt! Die Nazis wollten die Enten fernsteuern! Und wir können es jetzt auch ", sinniert Krick, während ein seltsames Leuchten sein Gesicht zum Glänzen bringt.
"Und die Walze?", fragen wir. Krick weiß es gleich: "Die spielt ein Lied mit einem Text von Hermann Löns. Das haben die Nazis den Enten offenbar mit auf den Weg gegeben." Der Kasten ist kaum abgeklemmt, schon erheben sich die Knäckentenverbände in Brighton und streben benommen ihren Winterquartieren in Nordafrika zu, wie in den Nachrichten zu sehen ist. Aus dem Fernseher schallt noch ein letztes Mal die Melodie, die den Flug der Enten begleitete: "Leb wohl mein Schatz, leb wohl, lebe wohl, denn wir fahren, denn wir fahren, denn wir fahren gegen Engeland, Engeland!"
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