Forscherin über geplante Strafrechtsverschärfung: "Scheinheiligkeit wird institutionalisiert"
Die Regierung wollte das Sexualstrafrecht für Jugendliche verschärfen. Sexualhistorikerin Dagmar Herzog findet das merkwürdig. Eine Erosion der Selbstbestimmungsmoral sollte nicht geduldet werden.
Die Verschärfung des Sexualstrafrechts für Jugendliche ist gerade gescheitert. "Wegen weiteren Beratungsbedarfs" ist die für Donnerstag geplante Verabschiedung im Bundestag abgesetzt worden, hieß es am Dienstag aus CDU/CSU-Fraktionskreisen. Die Bundesregierung wollte mit dem Gesetz einen EU-Beschluss in nationales Recht umsetzen - dazu ist sie verpflichtet. Jugendliche könnten sich demnach selbst des sexuellen Missbrauchs anderer Jugendlicher strafbar zu machen - etwa dann, wenn eine 15-Jährige einen 17-Jährigen ins Kino einlädt und ihn dort zu "Zärtlichkeiten verführen will, die über einen schüchternen Kuss hinausgehen", meint der Grüne Jerzy Montag. Kritiker meinen, der Entwurf der Bundesregierung gehe weit über das hinaus, was von der EU gefordert wird.
taz: Was ist so schlimm, wenn sich Jugendliche streicheln, Küssen und Petting machen?
Dagmar Herzog: Nichts ist daran schlimm, wenn sie es einvernehmlich und selbstbestimmt machen und 14 Jahre oder älter sind. Manche werden von selbst erst ein paar Jahre später anfangen, manche bestimmt schon ein Jahr früher, aber die Grenze von 14 Jahren ist schon rechtlich sinnvoll. Gerade Deutschland hat einen unglaublich wichtigen nachfaschistischen Lernprozess durchgemacht - in dem übrigens jüdische Remigranten wie Theodor Adorno und Fritz Bauer eine wichtige Rolle spielten -, um das Sexualstrafrecht in den 1960ern umzuarbeiten, weg von Ideen des "sittlichen Volksempfindens" und hin zum Schutz der Privatsphäre, der Selbstbestimmung und der Konsensmoral. Darauf kann das Land stolz sein.
Wie bewerten Sie ein solches Gesetzesvorhaben?
Merkwürdig ist, dass der deutsche Regierungsvorschlag über die EU-Bestimmungen hinausgehen will. Man müsste die Befürworter des Gesetzes fragen, was sie genau bewegt und warum sie auf diesen Ausweitungen bestehen: Was liegt dahinter? Wer schreibt dadurch wem was vor?
Jugendliche würden durch ein solches Gesetz im Prozess der sexuellen Selbstfindung massiv eingeschränkt, befürchtet die Opposition.
Ich finde "sexuelle Selbstfindung" ein bisschen grandios ausgedrückt. Sexualität sollte auch verteidigt werden können, wenn es ganz banal ist. Nüchterner könnte man argumentieren, dass wir keine Erosion der Selbstbestimmungs- und Konsensmoral dulden wollen; sie ist nicht zuletzt auch eine hart erkämpfte Errungenschaft - und gerade nicht unter dem scheinprogressiven Mantel des "Schutzes" vor Ausbeutung, Gewalt und anderem Mist zu sehen. Es ist aber seit ein paar Jahren eine Regression auch in der globalen Diskussion zu beobachten. Die berechtigte Sorge über Menschenhandel wird benutzt, um auch die Prostitution verschärft zu verfolgen. Das Menschenrecht auf selbstbestimmte Sexualität ist ja nicht nur ein Recht auf Schutz vor Gewalt und Missbrauch, sondern auch ein Recht - das hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ganz klar ausgesprochen - auf gewollte Sexualität. Und 2003 hat der Gerichtshof entschieden, dass dieses Recht ab 14 Jahren besteht. Bis jetzt hat das deutsche Recht auch sehr nuanciert und vernünftig Kontakte zwischen diversen Altersgruppen von Jugendlichen geregelt.
Wird ein solches Gesetz in andere Bereiche ausstrahlen? Ist Knutschen in der Öffentlichkeit bald tabu?
Die europäischen Jugendlichen werden sich wahrscheinlich nicht so schnell einschüchtern lassen. Nur weil ein Gesetz etwas vorschreibt, heißt das noch nicht, dass man sich auch daran halten muss.
Wie ist die Situation in den USA? Gibt es womöglich Parallelen?
In den USA gibt es in 50 Prozent aller High Schools nur die Abstinenzforderung als "Aufkärung," und in den meisten anderen wird Abstinenz als das Beste empfohlen - und dann noch als Nachtrag ein bisschen von Kondomen und Antibabypillen erzählt. Der Prozentsatz der sexuell aktiven Jugendlichen hat sich nicht viel geändert, aber die Rate des ungeschützten Sexes wohl - und damit die ungewollten Schwangerschaften und Krankeitsraten. Außerdem gibt es eine große Verwirrung gerade beim Thema der weiblichen sexuellen Selbstbestimmung. Voreheliche Sexualität wird tatsächlich wieder als "schmutzig" angesehen, und auch wenn sie stattfindet, ist sie mit Scham und Schuld beladen. Die Scheinheiligkeit wird institutionalisiert.
INTERVIEW: JAN PIEGSA
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