Alltag im Orient: Schmachtsongs im Neonlicht
Warum Araber Habibi-Musik zur heimlichen Nationalhymne und ganze Straßenzüge zum Supermarktregal machen. Sieben Alltagsmythen aus dem Orient.
Der Orient, das ist eine Fantasiewolke aus Gewürzen und aromatischen Gerüchen, eine Märchenwelt voller Teppiche und Haremsdamen - so weit das poetische Klischee. In den Medien bedeutet der Orient, im Besonderen der Nahe Osten, Terrorismus, Öl, Krieg und Pilgerströme. Darüber wird ganz vergessen, dass die arabische Welt auch einen stinknormalen Alltag hat. Deswegen hier: sieben orientalische Alltagsmythen aus dem normal verrückten arabischen Leben.
Ein orientalisches Lied enthält im Schnitt 11,5-mal das Wort "Habibi". "Mein Liebling" wird noch inflationärer besungen als das "Baby" im westlichen Popsong. Habibi-Songs sind der inoffizielle Soundtrack des arabischen Alltagslebens - ob im Überlandbus, am Falafelstand oder als Klingelton.
Die Gesangslegende Amr Diab bringt es schon mal auf einen Habibi-Faktor von 23 pro Song. Seit über zwei Jahrzehnten kaufen Araber aller Generationen seine Alben, und seither scheint der Ägypter kein Stück gealtert. Seine Hits schmückt Diab manchmal mit Diskogefiepse aus, das jeder DJ als Material verwenden könnte, manchmal auch mit Bossa-Akkorden oder schrammeligen Rockgitarren. Seine Habibi-Songs könnten also problemlos beim Eurovision Song Contest laufen, wenn der Orient zu Europa gehören würde.
Ewige Meisterin der Habibi-Kategorie bleibt aber die 1975 verstorbene Ägypterin Umm Kulthum. Ihre traditionellen Gesänge dauern bis zu einer Stunde - pro Lied. Die Lieblinge darin zu zählen hat bisher noch keiner durchgehalten.
Manchmal schafft es sogar der Muezzin, in die virtuos lang gezogenen Worte des Glaubensbekenntnisses ein Habibi unterzuschmuggeln. Und das will was heißen. Denn nur Allah wird im Orient noch häufiger angerufen als Habibi.
Auf den arabischen Basaren gibt es ganze Straßenzüge, die nur einem einzigen Produkt gewidmet sind. Wie in westlichen Supermärkten die meterlangen Regalreihen, in denen nur Tütensuppen stehen - nur eben in kompletter Straßenlänge.
Da gibt es Taschenmonokulturen, wo in den Schaufenstern von zwanzig Geschäften dieselben glänzenden Kunstlederhandtaschen mit Glitzerapplikationen hängen. Oder ganze Straßenzüge nur mit preiswerten Damenschuhen. Oder nur mit Garn oder nur mit Autoreifen. Nicht zu vergessen: die Nussläden, die das wichtigste arabische Grundnahrungsmittel neben Tee mit zu viel Zucker verkaufen. Berge von Mandeln und Pistazien, die sich nur im Grad der Röstung unterscheiden.
Das Verwunderliche daran: Die Händler treiben sich gegenseitig nicht durch Preisdumping in den Ruin. Jeder Kaufmann hat eine weit verzweigte Verwandtschaft und ein noch viel größeres soziales Netzwerk - die Internetplattformen Facebook und Myspace sind nichts dagegen. Folglich kennt jeder Araber einen Händler persönlich, bei dem er immer einkauft, die Reviere sind ganz genau abgesteckt. Das Einzige, was hier noch hartnäckig umworben werden kann, ist der Tourist - das Monatsgehalt auf zwei Beinen.
3. Blechdarwinismus
Auf arabischen Straßen schieben sich hupend Oldtimer aneinander vorbei, die dem deutschen Liebhaber des klassischen Automobils wie eine Fata Morgana erscheinen. Man könnte meinen, alle Käfer, die Volkswagen je hergestellt hat, seien im Nahen Osten gestrandet. Amerikanische Klassiker wie der De Soto von Chrysler aus den 50er-Jahren parken ganz selbstverständlich neben französischen Peugeots 203. Und rostige Karossen von Mercedes ohne Ende, vom 300 SL bis 300 Adenauer. Da es in vielen arabischen Ländern keine Auflagen für Abgase und Katalysatoren gibt, darf man alles fahren, was vier Reifen und einen Motor hat, egal in welchem Zustand.
Verkehrsregeln gibt es nur theoretisch, sie spielen in der Praxis keine Rolle. Es gilt kein rechts vor links, sondern der Stärkere hat Vorfahrt. Kleinere Autos werden einfach aus dem Weg geschoben, Fußgänger von der Straße gehupt. Überhaupt gehört das Hupen zum Fahren wie Lenken und Schalten - man hupt zum Gruße, Taxis hupen einladend Passanten an, es gibt Hupen aus guter Laune, aus Langeweile oder einfach so aus Routine.
Da Ampeln in arabischen Ländern eher die Ausnahme sind, die Rush Hour aber 24 Stunden dauert, haben Fußgänger wenig Möglichkeiten, sich durch die Städte zu bewegen. In Kairo zum Beispiel überquert man die Straße, indem man sich todesmutig vor fahrende Autos wirft und damit Vollbremsungen erzwingt. Oder man lässt sich, die Luxusvariante, von einem Taxi befördern - auf die andere Straßenseite.
4. Die heilige Seifenoper
Man könnte meinen, der Koran verbiete das Abschalten des Fernsehers, so treu sind die Araber ihrer Mattscheibe. Nicht nur zu Hause, auch in Restaurants hängen die neuesten Hightech-Flachbildschirme an jeder Wand. Jeder Saft- und Gemüsestand hat einen Mini-TV mit Antenne. In Teehäusern laufen DVDs mit amerikanischem Show-Catchen, wo in den Pausen Blondinen Autos einschäumen.
Vor allem im Ramadan ist der Fernseher unersetzlich, denn dann kommt die besondere Seifenoper, die eigens für den Fastenmonat gedreht wird. Sie heißt "Bab El Har" ("Tor zur Nachbarschaft") und spielt in einem archaischen arabischen Dorf. Die Männer sehen aus wie Sindbad oder Ali Baba und rasseln mit Säbeln, die Frauen schmachten unter schillernden Tüchern und schwerem, klimperndem Schmuck in die Kamera. Es geht um Liebe, Intrigen, sogar um Mord und Folter, wenn auch auf ungewollt satirische Art.
Die Araber freuen sich das ganze Jahr auf die Serie, nächstes Jahr wird die dritte Staffel ausgestrahlt. Sie läuft in allen arabischen Ländern, und wirklich niemand verpasst sie. Das gibt Quoten, von denen deutsche Sender selbst zur Fußballweltmeisterschaft nur träumen können. Dumm nur, dass der Sendetermin in manchen Zeitzonen mit dem Abendgebet zusammenfällt. In den Palästinensergebieten zum Beispiel. Dort haben Muslime eine Anfrage an den Scheich gestellt. Ob man das Gebet beim nächsten Mal nicht verschieben könne. Die Serie ist heilig.
5. Lost In Translation
Die arabische Sprache ist überreich an blumigen Worten und Bildern. Dafür fehlen einige Buchstaben wie zum Beispiel das "P". Das führt beim Benutzen der englischen Sprache zu einem inflationären Gebrauch dieses Konsonanten. So wird die Strandbar als "Beach Clup" ausgeschildert, auf der es ein Feld für "Volley Pall" gibt. Auch die Vokale, die im Arabischen keine eigenständigen Buchstaben sind, sorgen für Verwirrung. Arabische Texte sind Lückentexte, in denen die Selbstlaute fehlen - und bei fremdsprachige Texten werden diese Lücken ganz nach dem Zufallsprinzip ausgefüllt. Traditionelle syrische Kost gibt es im "Serian Ristaurant", auf der Karte steht eine Auswahl an "Apiritif", und als Hauptspeise gibt es Fleisch oder "Vigiterian food".
Auch bei der Markenkleidung schleichen sich kleine, entlarvende Fehler in das Label ein. Socken von "Hugo Boos" oder Sonnenbrillen von "Dolce & Gobana".
Manche Ladenbesitzer verwirren den ausländischen Kunden außerdem mit paradoxen Werbesprüchen. Schönstes Beispiel im Souk der Altstadt von Jerusalem: "You cant afford, not to stop and shop." Also: "Sie können es sich nicht leisten, hier nicht Halt zu machen und einzukaufen." Können wir es uns nicht verkneifen, nicht zu lachen?
6. Es werde Neonlicht
Die Menschen des Orients brauchen viel Licht. Deswegen lieben sie Neonlicht. Jedes Wohnzimmer wird mit dem gleißenden Strahlen aus Glasröhren geflutet. In Restaurants diniert man in romantischer Beleuchtung. Hotelzimmer brauchen keine Leselampe auf dem Nachttisch, da die Neonlampe an der Decke schon jeden Winkel ausleuchtet wie eine Zahnarztpraxis. Dabei beweisen die Araber durchaus Sinn für eklektische Innenarchitektur: viel Tradition, viel Teppich, orientalische Ornamente in Mobiliar und Tapete. Und dazu westliche Glasröhren mit silbrig-weiß flimmerndem Neonlicht. Kronleuchter sind von gestern.
Der etwas besser betuchte Orientale bewohnt ein Haus aus Sandstein, auf traditionell gemacht, der Innenhof mit Zitronenbaum ist Pflicht. Das noch wichtigere Statussymbol: der Springbrunnen im Lichthof, illuminiert in bunten Farben, die man per Fernbedienung zu einer kleinen Lasershow inszenieren kann. Mit Neonlicht, versteht sich.
7. Nicht ohne Zellstoff
Es besteht aus Zellulose, und es ist das wichtigste Accessoire eines Arabers: Das Papiertaschentuch gehört zum Orient wie die Wasserpfeife, das Teehaus oder das ständige Gehupe. Kubikmetergroße Kleenexboxen hat man auch unterwegs stets parat. Und wenn nicht, bekommt man ein Zellstofftuch gereicht, selbst wenn man gerade keinen Schimmer hat, wofür. Im Restaurant nur eine Serviette gereicht zu bekommen wäre undenkbar. Ein endloser Tuchspender im Pappkarton ist obligatorisch.
Beim Essen ist das verständlich, denn auch wenn Besteck im Morgenland verwendet wird, erhöhen doch die vielen Vorspeisen zum Anfassen und Dippen den Serviettenverbrauch. Ganz zu schweigen von üppiger Schawarma im Brot, die zu allen Seiten herausfällt. Manch einer der schmalzigen Habibi-Sänger hält bei seinen Auftritten das Mikrofon in der einen, das Taschentuch in der anderen Hand und winkt in die Kamera. Zellulose ist arabisches Kulturgut - und ein unerschöpflicher Rohstoff, der keine Kriege auslöst.
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