Kolumne Katastrophen: Der ewige Spaziergänger
Wie ist das, wenn man kein Geld zum Heizen hat und der letzte Hausbewohner ist? Kalt.
Jetzt wird er wieder spazieren gehen. Lange Märsche durch die Stadt machen. Sogar von seiner Wohnung in Berlin Prenzlauer Berg bis raus nach Köpenick marschieren, um nicht so viel heizen zu müssen. Denn heizen kostet Geld. Herr Axt werde ich ihn nennen. Der Name passt: prägnant und schnörkellos.
Herr Axt war schon immer in das kleine Café gekommen. Lange bevor ich dort begonnen hatte, entkoffeinierte Soja-Latte-Macchiatos mit Mandelaroma über den Tresen zu reichen - an Mütter von Paulas und Leos, an gestresste Dokumentarfilmer und den toupierten Schuhladenbesitzer, der immer mit einem 50-Euro-Schein bezahlte und nie Trinkgeld gab. Er kam täglich, zu einer festen Zeit. Herr Axt bestellte Filterkaffee. Vielleicht weil er um 55 Cent günstiger war - vielleicht weil er ihm besser schmeckte. Dazu aß er einen dieser großen amerikanischen Kekse, die wir verkauften. Sie wurden in langen, rechteckigen Kartons von der Fabrik geliefert, hunderte auf einmal, und tauten hinten in der Küche auf.
Kirsten Reinhardt (30) arbeitet in der Online-Redaktion der taz.
Herr Axt war immer ein stiller Gast gewesen. Spazierte durch die Glastür in seinem knielangen Herrenmantel, manchmal trug er einen Hut und fast immer Schwarz. Ein Typ, den man niemals duzen würde. Obwohl er nicht alt war, Ende vierzig vielleicht. Einer, der Rasiercreme aus der Tube benutzt. Einer, der das Geschirr abtrocknet und nicht zum Abtropfen stehen lässt. Ein wenig steif, mathematisch und penibel - und zynisch. Wenn wenig los war, stand er gern am Tresen, direkt neben dem überdimensionalen Ikebana-Gesteck, das zweiwöchentlich von einem teuren Blumendesigner ausgewechselt wurde. Einmal räusperte sich Herr Axt und sagte: "Je mehr ich einer lebenden Leiche ähnle, desto mehr ähnelt eure Blumenvase einem Grabstein." Danach stieß er ein kurzes, schrilles Lachen aus. Die Vase wies in der Tat Ähnlichkeiten mit einem Grabstein auf: schwarz, viereckig, leicht pompös. Von da an berlinerte Herr Axt zu jeder Tasse Filterkaffee ein bisschen mehr heraus: Er war seit über zehn Jahren arbeitslos. Hatte studiert, gut verdient und dann hatte es ihn erwischt: Hartz IV. Arbeit? Inzwischen eine Utopie. Er erzählte von den Gängen aufs Amt - er sagte niemals Agentur dazu - und seinen Erkundungstouren. Immer mit Abstand, als wenn er das alles von außen beobachten würde. Immer gefolgt von diesem kurzen, schrillen Lachen.
Vor 30 Jahren war er in das Mietshaus in Prenzlauer Berg gezogen, hatte abends in der Eckkneipe gespeist und jeden Tag den alten Herrn gegrüßt, der rauchend vorm Haus stand. Jetzt war da niemand mehr zum Grüßen, das Haus steht leer. Fast zumindest.
Manchmal machen ein paar junge Kreative Zwischennutzung und "sich allein durch übermäßigen Müll und Krach bemerkbar". Vielleicht glauben sie nicht, dass dort noch einer wohnt. Im Winter hat das Haus arktische Temperaturen, und mit jedem Jahr werden die Tags und Graffiti im Treppenhaus dichter. Allein die Wohnung von Herrn Axt ist gleich geblieben. Die blasse Blümchentapete von vor 89, die Küchendusche und das Klavier. Das spielt er nur selten und sehr leise. Das Amt darf das nicht wissen. Hören würde ihn doch keiner. Die, die herkommen, machen selbst genug Krach. Die Leute, die den illegalen Wohnungsclub aufgezogen haben, zum Beispiel. Lesungen gab es dort und Konzerte. Die ganze Nacht hindurch polterten die Schritte, hallten bis ins Wohnzimmer von Herrn Axt. Treppe hoch, Treppe runter. Hingegangen ist er nie - und Wärme haben sie auch nicht gebracht.
Etliche Briefe hatte Herr Axt an seine Hausverwaltung geschrieben. Dass man die leeren Wohnungen im Haus heizen müsse. Dass er Mietminderung beantrage wegen der eisigen Kälte. Es ist teuer, wenn keiner sonst im Haus heizt. Es kam keine Antwort, und Herr Axt minderte die Miete einfach selbst. Es kam immer noch kein Brief. Vielleicht wird irgendwann saniert, wenn Leute wie Angelina Jolie, Brad Pitt oder Tom Cruise den Kiez von Herrn Axt entdecken. Bis dahin kann Herr Axt dort wohnen. Und geht spazieren, jeden Tag.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!