"Linksruck" der Gesellschaft (I): "Willst du, dass Koch weiterregiert?"
Daniel Cohn-Bendit, Europachef der Grünen, fordert SPD und Grüne in Hessen auf, notfalls mit der Linkspartei zu koalieren - oder mit der FDP. Oberste Priorität habe es, Ministerpräsident Koch loszuwerden.
taz: Herr Cohn-Bendit, wie beurteilen Sie den sogenannten Linksruck der Gesellschaft. Chance oder Schimäre?
Daniel Cohn-Bendit: Ich habe gerade eine Umfrage gelesen: Soll man die Jugendgesetzgebung verschärfen? 85 Prozent der CDU-Anhänger, 45 Prozent der SPD-Anhänger, 34 Prozent der Linken und 21 Prozent Grüne sagen: Ja.
Das heißt?
Das heißt: Man kann linksautoritär sein, also für Mindestlohn und für mehr Staatsinterventionismus und autoritär rechts bis rechtsradikal sein. Das Pendel vom Neoliberalismus schlägt in Richtung des starken Staates, das ist in Frankreich auch so, aber das heißt nicht, dass es eine Links-Mehrheit gibt. Es gibt auch einen Staatsinterventionismus von rechts. Das sind komplexe Vorgänge in der Gesellschaft.
Was soll denn ein postideologischer, sozial denkender Okayverdiener wählen, dem Gefühlssozialismus als Politik oder Haltung zu wenig ist?
Ich glaube, dass die Grünen immer noch die akzeptabelste Distanz haben zwischen Neoliberalismus und Neostaatsinterventionismus sind. Und die Grünen sind die Partei, wo diese schwierige Auseinandersetzung geführt wird. Bei den anderen ist es immer: entweder, oder.
Was meinen Sie konkret?
Es ist richtig, Mindestlohn zu fordern, ohne die Flexibilität des Arbeitsmarktes zu unterschätzen. Es ist aber auch richtig, Schulen mit einer eigenen Autonomie zu versehen, damit sie eigene Profile haben können. Wenn ich an der Regierung wäre in Hessen, würde ich den Mumm haben, die Schulpolitik einzuklagen. Das ist neben der umweltpolitischen Auseinandersetzung die entscheidende Auseinandersetzung in Deutschland, die von den Ländern aus geführt werden könnte.
Und die, mit denen man die Landtagswahl in Hessen gewinnen will?
Nicht will, muss. Koch ...
... der CDU-Ministerpräsident ...
... ist ja mit seiner jüngsten Kampagne zum Symbol einer gesellschaftlichen Spaltung geworden, da muss man wissen, was man will. Will man diese verheerende Schulpolitik der CDU-Kultusministerin Wolff in Hessen fortsetzen, an der alle Schüler und Eltern leiden - oder nicht? Wenn man eine neue, verantwortungsvolle, integrative Schulpolitik will und zudem eine andere Energie- und Umweltpolitik in Hessen, dann darf die CDU nicht in der Regierung sein. Das gilt nicht nur für eine schwarz-gelbe, sondern auch für eine große Koalition. Schließlich kann man eine moderne Multikulti-Integrationspolitik auch auf Landesebene neu denken.
Rot-Grün hat keine gesellschaftliche Mehrheit, Rot-Grün-Rot mit der Linkspartei wird von allen Beteiligten ausgeschlossen, die FDP ist auf Koch festgelegt. Es läuft wieder darauf hinaus, mit grüner Stimme eine große Koalition zu wählen.
Falsch. Eine Stimme für die SPD kann eine Stimme für die große Koalition sein, eine Stimme für die Linkspartei ist eine Stimme für Koch. Wer Rot-Grün will, muss Grün wählen.
Das hat Fischer 2005 auch gesagt, und viele fühlten sich veralbert.
Fischer hat damals nur Rot-Grün gesagt. Das tue ich nicht. Ich sage: Im Fall des Falles müssen wir noch jemand mitnehmen. Deshalb sehe ich die beiden weiteren Möglichkeiten: Rot-Grün-Gelb oder Rot-Grün-Rot.
Wissen Sie mehr als wir?
Der Tag nach der Wahl ist der Tag nach der Wahl. Strategisch ist es richtig: Regierungsfähig ist nur Rot-Grün oder Schwarz-Gelb. Deswegen muss Rot-Grün so stark wie möglich sein, denn das ist die einzige Alternative zu Schwarz-Gelb oder zur großen Koalition.
Und dann?
Ich sage nicht, dass man mit der Linken koalieren soll. Man muss alles tun, damit man sie nicht braucht. Weil sie im ganzen Wahlkampf so politikunfähig erscheint wie die FDP. Rot-Grün muss den Kern der Regierung stellen.
Was heißt das?
Ohne eigene Mehrheit muss Rot-Grün ein Regierungsprogramm formulieren und sowohl der FDP wie auch der Linken anbieten. Dann muss man sehen, wie die beiden Parteien sich politisch verantwortlich zeigen gegenüber dem Wahlergebnis.
Für eine Koalition mit der Linkspartei bräuchten SPD-Spitzenkandidatin Andrea Ypsilanti und Grünen-Chef Tarek Al-Wazir eine gute Begründung.
Die Begründung ist im Wahlkampf. Es muss ja auch nicht die Linkspartei sein. Vielleicht springt auch die FDP. Sie ist zwar im Moment in ihrer Argumentation nur ein Wurmfortsatz der CDU, aber das kann sich am Tag nach der Wahl ändern. Jemand wird springen, das ist klar. Wenn es keine schwarz-gelbe Mehrheit gibt, dann muss sich Frau Ypsilanti auf alle Fälle etwas einfallen lassen.
Oder sie wird von den Machern einer großen Koalition weggedrückt
Koch und Ypsilanti werden dann weggedrückt von Jung und Walter.
Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU) und Jürgen Walter, der gegen Ypsilanti im Kampf um die SPD-Spitzenkandidatur unterlegen war.
Jung steht schon in den Startblöcken.
Man kann doch aber angeblich nicht mit der Linkspartei.
Man kann nichts und alles.
Ypsilanti könnte in die Geschichtsbücher eingehen als diejenige, die eine gesellschaftliche linke Mehrheit in eine politische umgewandelt hat?
Die Linke ist unverantwortlich, indem sie darauf zielt, dass Koch weiterregieren kann. Aber genau deshalb dürfen die anderen nicht kneifen, sondern müssen dezidiert sagen: Wir kämpfen für die Mehrheit.
Wenn Sie sagen: Ob Linkspartei oder FDP, Hauptsache regieren, ist der Opportunismusverdacht bei Teilen der eigenen Klientel programmiert.
Na und? Denen sage ich eines: Wenn du nicht mit der Linkspartei koalierst oder mit der FDP, dann lässt du die CDU regieren. Willst du das? Dann sag es. Das ist die Angst vor der Politik. Wenn man Koch für schlimm und gefährlich hält, wie ich es tue, und die Politik von Kultusministerin Karin Wolff für spalterisch und eine Dramatik für hunderttausende von Familien, dann müssen sie politisch weg. Am Abend nach der Wahl muss ich sehen, wie ich dieses Hauptziel realisiere.
Das ist dann nicht Opportunismus?
Nein, das ist politische Klarheit. Und übrigens: Paranoide antikommunistische Argumentation von Koch war ja gerade die Struktur der Argumentation der Hessen-CDU der 50er-Jahre, die zu den schwarzen Kassen und den "jüdischen Vermächtnissen" geführt hat. Man kann der Linkspartei ihr betonborniertes Politikverständnis vorwerfen. Aber mit der SED haben sie so viel zu tun wie ich mit Eintracht Frankfurt.
Das heißt?
Wir schielen dahin, aber wir leben in einer anderen Welt.
Bei der umstrittenen Frage des Flughafenausbaus Rhein-Main macht man sicher einen Ihrer berühmten "gesellschaftlichen Kompromisse"?
Nein, das entscheiden die Gerichte. Und dann ist es, wie es ist.
Mit dem SPD-Schattenwirtschafts- und Umweltminister Hermann Scheer hat erstmals ein Politiker die Energiewende bis zum letzten Windrad berechnet. Die CDU höhnt, aber auch die Grünen bremsen. Was soll das?
Ja, das ist eine ernsthafte Debatte. Ich würde den Grünen raten, eine Lösung zu finden, zum Beispiel ein rot-grünes Ministerium. Ein Minister rot, zwei Staatssekretäre grün. Denn Scheers Programm ist rot-grün, und er wird gegen viele innerparteiliche Sozi-Widerstände zur Durchführung die Grünen brauchen.
Scheer kommt nur ganz oder gar nicht. Al-Wazir besteht auf dem Umweltministerium.
Ja, das muss er. Ich könnte mir aber auch vorstellen, dass die Grünen einen wichtigen Posten wie Justiz besetzen oder Universitätspolitik, vor allem Schulpolitik. Zum Beispiel ein Ministerium für Schule, Soziales und gesellschaftliche Integration: wie gesagt, Multikulti neu erfinden.
Koch hat zweimal mit bundespolitischen Themen gewonnen, überhaupt werden Landtagswahlen meist bundespolitisch, also strategisch missbraucht. Diesmal nicht?
Nein. Diese Wahl wird landespolitisch entschieden. Es haben eine ganze Menge Leute die Nase voll von Koch, speziell nachdem er sich mit seiner letzten Kampagne verzockt hat. Koch und Wolff als Schulministerin, das sind Personen, die landespolitische Inhalte darstellen. Diese Inhalte müssen weg. Das ist die Entscheidung bei dieser Wahl.
Auch wenn Sie Lafontaine danach nie mehr loswerden?
Im Gegenteil: Der Linkspartei dämmert es, dass Oskar der Totenredner jeglicher Alternativen sein könnte. Seine SPD-Grüne-Paranoia kann man politisch nicht mehr heilen. Die Bundespolitik mit der Linkspartei wird sicher schwierig, aber da haben wir noch Zeit bis zur nächsten Bundestagswahl. In Hessen musst du über die Verantwortung Deutschlands in Europa oder in Afghanistan nicht diskutieren. Man soll sich jetzt auf die Landespolitik konzentrieren. Die Parole heißt: Koch in Frührente.
Oder ins Europaparlament?
Bitte nicht.
INTERVIEW PETER UNFRIED
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Autoritäre Auswüchse beim BSW
Lenin lässt grüßen
Prozess zum Messerangriff in England
Schauriger Triumph für Rechte
BSW in Thüringen auf Koalitionskurs
Wagenknecht lässt ihre Getreuen auf Wolf los
Rückgabe von Kulturgütern
Nofretete will zurück nach Hause
Nahostkonflikt in der Literatur
Literarischer Israel-Boykott
Tarifverhandlungen bei Volkswagen
VW macht weiterhin Gewinn