Selbstmordwelle in Wales: Der junge Werther, digital
Eine unheimliche Selbstmordwelle erschüttert einen südwalisischen Ort. Es spricht einiges dafür, dass sich die Jugendlichen dazu im Internet verabredeten.
DUBLIN taz Natasha Randal war das siebte Selbstmordopfer innerhalb von zwölf Monaten, das sich in der walisischen Kleinstadt Bridgend erhängt hat. Sie war 17. Vor ihr hatten sich sechs junge Männer, fast alle im Alter von 17 bis 20 Jahren, das Leben genommen. Lediglich Gareth Morgan war älter, 27 - und hatte eine achtjährige Tochter.
Am Tag nach Randalls Tod unternahmen zwei ihrer Freundinnen, beide 15 Jahre alt, ebenfalls Selbstmordversuche, konnten jedoch gerettet werden. Alle neun kannten sich und hatten ihre persönlichen Profile auf die Internetseite "Bebo" gestellt. Randall, die am College von Bridgend Kinderpflege studierte, nannte sich dort "sxiwildchild". Sie war mit Liam Clarke befreundet, der sich kurz nach Weihnachten erhängt hat. "Ruhe in Frieden, Clarky boy", schrieb Randall Anfang des Monats auf der Bebo-Website. "Werde dich vermissen. Werde mich immer an die guten Zeiten erinnern."
Bridgend liegt zwischen Cardiff und Swansea im Süden von Wales. In der Kleinstadt leben 40.000 Menschen, die Region ist bei Surfern sehr beliebt. Bridgends Untersuchungsrichter Philip Walters hat am Dienstag polizeiliche Ermittlungen angeordnet, um herauszufinden, ob es einen Zusammenhang zwischen den Selbstmorden und dem Internet gibt. Warum sollte ein offenes Forum ausgerechnet in Bridgend die Suizide auslösen? Die Polizei hat Randalls Computer aber vorsichtshalber beschlagnahmt.
Begonnen hatte die Selbstmordserie hatte im Januar 2007, als der Leichnam des 18-jährigen Dale Crole in einem leerstehenden Haus gefunden wurde. Zwei Tage vor seiner Beerdigung erhängte sich sein Freund David Dilling, der sich bereits einen Anzug für Croles Begräbnis gekauft hatte. Dillings Mutter Teresa Claypole sagt: "Ich stelle mir oft vor, wie sich die beiden im Himmel wiedertreffen."
Tegwyn Williams vom Gesundheitsdienst in Bro Morgannwg sagte: "Wir müssen das Stigma, das dem Selbstmord anhaftet, abbauen, damit niemand Angst haben muss, über seine Depressionen zu sprechen." Aber keines der Selbstmordopfer hatte irgendwelche Anzeichen von Depressionen gezeigt. Für die Eltern kamen die Selbsttötungen aus heiterem Himmel.
Melanie Davies, deren Sohn Thomas sich kurz nach dem Selbstmord seiner beiden Freunde Crole und Dilling im vergangenen Februar umgebracht hat, sagt: "Es ist wie ein Wahn, eine Art blödsinnige Modeerscheinung. Thomas hat jede Nacht drei Stunden am Computer gesessen. Wir wissen wie die meisten Eltern gar nicht, wie man auf diese Internetseiten kommt "
Clarkes Vater Kevin, ein Lkw-Fahrer, sagt: "Wir haben keine Ahnung, was passiert ist. Es gab bei Liam keine Hinweise, dass er daran dachte, sich umzubringen. Wir wissen nicht, ob es ein gruseliger Kult ist oder ob die jungen Leute einen bizarren Selbstmordpakt geschlossen haben."
Freunde der Toten haben Erinnerungsseiten im Internet eingerichtet, wo Besucher einen virtuellen Ziegelstein für eine Gedenkmauer erwerben können. Die Polizei befürchtet deshalb, dass die jungen Leute es schick finden, eine eigene Gedenkseite zu bekommen, und sich deshalb umgebracht haben. "Es steigert das Ansehen im Freundeskreis", sagte ein Beamter.
Nachahmungstäter sind kein neues Phänomen. Vor vier Jahren haben zwei walisische Mädchen im Internet einen Selbstmordpakt geschlossen, im vorigen Sommer gab es in einem kleinen Dorf in Nordirland drei Suizide. Während die Selbstmordrate in Großbritannien insgesamt seit 1990 stetig gefallen ist, nahm sie in Wales in den vergangenen drei Jahren zu, vor allem im Süden des Landes, einer postindustriellen Region mit hoher Arbeitslosigkeit. Im walisischen Durchschnitt bringen sich jedes Jahr 22,4 Menschen pro 100.000 Einwohner um.
Madeleine Moon, die Abgeordnete von Bridgend, sagte: "Das ist eine kleine Stadt, die Menschen kennen sich untereinander. Es ist beunruhigend, dass du in der virtuellen Welt den Realitätssinn verlierst und die fürchterliche Realität des Todes und die Auswirkungen auf die Familie und den Freundeskreis nicht mehr erkennst. Das ist tragisch."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Die Regierungskrise der Ampel
Schnelle Neuwahlen sind besser für alle
Angriffe auf israelische Fans
Sie dachten, sie führen zum Fußball
Bilanz der Ampel-Regierung
Das war die Ampel
Israelische Fans angegriffen
Gewalt in Amsterdam
Die Grünen nach dem Ampel-Aus
Grün und gerecht?
Trumps Wahlsieg und Minderheiten
So wie der Rest