Kolume Das Schlagloch: Freier Fall, jetzt bevormundet

Die Talibane rauchen noch selbst, für uns wird von nun an inhaliert - auf der Leinwand.

Darf man im März noch von der letzten Berlinale reden? Was da geraucht wurde auf der Leinwand! Und nicht nur in den historischen Filmen, wo es nicht anders geht, wegen der Authentizität. Raucher sind ja auch bald historisch, im wirklichen Leben. Insofern wird man die Filme von gestern in naher Zukunft vor allem daran erkennen, dass in ihnen Menschen in seltsamen kleinen Glashäuschen stehen und rauchen. Öffentliche Fernsprecher sind nämlich ebenfalls historisch, schon ein bisschen länger als die Raucher. Das sind die großen, gleichwohl fast unmerklichen Revolutionen des Alltags. Jedenfalls kratzte es schon beim Zusehen im Hals, so viel wurde auf diesem Festival inhaliert. Oder es ist nie so aufgefallen, schließlich wären uns Telefonzellen im Kino früher auch nie aufgefallen. Aber was sollte es bedeuten? War das ziviler Ungehorsam, der Aufstand der Unanständigen? Auf jeden Fall war der Aufenthalt im Kino während der Berlinale ein klarer Fall von Passiv-Rauchen.

Es gibt zwei Möglichkeiten der Interpretation. Einerseits handelt es sich bei diesem stellvertretenden Rauchen auf der Leinwand eindeutig um eine Bestätigung der Freudschen Kulturtheorie. Nach Freud ist Kultur nichts anderes als eine Sublimierungsleistung. Triebunterdrückung. Deshalb gibt es den Sex, den wir nicht mehr haben, heute vor allem im Kino und Fernsehen. Und nun wird uns auch noch das Rauchen abgenommen. Die Moderne als gigantisches Erleichterungsprojekt. Als die universale Einführung des Stellvertreters. Der Mensch muss einfach immer weniger selbst tun. Und das ist ein anderer Name für Zivilisation. Man erkennt das auch gut an unseren Soldaten.

Die neue Bundeswehrstudie, die in der letzten Woche vorgestellt wurde, besagt, dass deutsche Soldaten dicker sind als der Rest der Bevölkerung und zu wenig Sport treiben. Das geschichtlich überlieferte Vorurteil, beim Soldatsein handele es sich um eine irgendwie körperbetonte Tätigkeit, ist also zu korrigieren. Unter den 18- bis 29jährigen Soldaten sind 40 Prozent übergewichtig. Die Zivilisten liegen mit einem Anteil von 35 Prozent Dicker deutlich darunter. Sogar bei den stark Übergewichtigen hält das Militär die Führung mit 8,5 Prozent der Uniformträger gegenüber 7,1 Prozent der Unbewaffneten. Zu überlegen wäre unter diesen Umständen, auf die Uniform künftig ganz verzichten und eine Art militärischer Umstandskleidung mit Schulterstücken zu entwerfen.

Auf unsere Hoffnung, dass der potentielle Feind sich bald ebenso zivilisieren möge wie wir fällt unter solchen Voraussetzungen natürlich ein ganz neues Licht. Noch nie habe ich einen dicken Taliban gesehen. Dafür rauchen sie den ganzen Tag. Und übergewichtige Selbstmordattentäter sind auch selten.

Rauchen unsere Soldaten zu wenig?

Seltsamerweise haben einige Menschen überhaupt kein Verständnis für die Freudsche Kulturtheorie oder das moderne Soldatentum und seine Probleme. Ich denke jetzt nicht mal an die Amerikaner, die bereits eine Altersbegrenzung für Filme erwägen, die Raucher "in positivem Licht" zeigen, nein, ich denke an Susi, eine Bekannte. Sie hat diesen typischen Nichtraucher-Blick, so eine Mischung aus Überlegenheit und grenzenloser Verachtung für jeden, der in ihrer Gegenwart das Wort Rauchen nicht sofort mit einem Bekenntnis der lebhaftesten Abscheu verbindet. Genau so wie man früher in der DDR das Wort "Imperialismus" aussprechen musste. Dass bald die gesamte Filmgeschichte im Giftschrank enden könnte, schreckt sie nicht. Für eine gute Sache ist kein Opfer zu groß. Und Humphrey Bogart wäre der Adolf Hitler der Filmgeschichte. Oder nein, Hitler hat nicht geraucht. Adolf Hitler hat sich außerdem gesund ernährt - ein einsamer Vegetarier unter lauter Fleischfressern. Wahrscheinlich hätte Hitler sogar die Bio-Landwirtschaft unterstützt, ja ganz gewiss hätte er das getan. Trotzdem, auch wenn Adolf Hitler zu ihnen gehört - die bekennenden Nichtraucher haben es besser. Denn sie tun, was sie tun, aus Überzeugung. Überzeugungen sind rar geworden. Nur Michael Naumann hat noch welche. "Beim Leben meiner Kinder", hat er gesagt, würde er die Linke meiden. So klingt eine richtige Überzeugung. In der DDR hat man sich gegenseitig gefragt: "Bist du überzeugt?" Das meinte: Bis du normal oder glaubst du auch, was die da oben glauben? Trotzdem, es scheint ein tiefes Bedürfnis nach Überzeugungen zu geben. Und die Überzeugten haben ein feines Gespür für die Schwächen der anderen.

Es ist als wüsste Susi, als wir Anfang des Jahres in Sachsen-Anhalt bei diesem Griechen waren, wo an allen drei Nebentischen geraucht wurde. Während wir gegessen haben. Also ich fand das empörend. Sachsen-Anhalt, natürlich. Und was für zivilisatorische Blicke wir an den Nebentisch gesandt haben, bei jeder neuen Giftgaswolke, die unsere Souvlaki streifte. Das hatten nicht einmal zwei Wochen Berliner Rauchfreiheit aus uns gemacht. Ich bin wirklich für das Grundrecht zu rauchen, aber doch nicht in meiner Gegenwart. Und wenn ich durch ein ICE-Bistro gehe, halte ich noch heute die Luft an. Alte Gewohnheit, dabei kann man dort jetzt nicht nur essen, sondern sogar atmen.

Das ist gut so. Denn in reiner Luft lassen sich die Rechte unserer Mitmenschen, der Raucher, gleich doppelt so gut verteidigen. Ist das wirklich Doppelmoral? Sagen wir, es hat mit Kultur zu tun. Und mit Freiheit. Kultur bedeutet nicht zuletzt, nicht alles leben zu müssen, was man denkt. Fundamentalisten und Nichtraucher haben einen engen Kulturbegriff und verstehen keinen Spaß. Obwohl die Fundamentalisten immerhin rauchen.

Aber da ist noch etwas. Überregulierungen im Zeitalter der allgemeinen Deregulierung sind verdächtig. Wir werden immer freier, unsere Existenz immer halt-loser. Nicht umsonst heißt die radikalste Art des Fallens "freier Fall". Der Spezialfall, den wir gerade einüben, wäre der universell bevormundete freie Fall.

Dass wir die Deregulierung haben, erkennt man daran, dass zum Beispiel Geiseln sich künftig selbst befreien müssen. Jedenfalls wenn sie nicht für die Kosten ihrer Befreiung aufkommen wollen. So wie die 35jährige Physiotherapeutin, die jetzt 12.640 Euro bezahlen soll, für den Hubschrauberflug aus dem nordkolumbianischen Dschungel, wo sie zehn Wochen in Geiselhaft saß. 12.640 Euro. Und die Physiotherapeutin kann nicht einmal sagen: Dann bringt mich doch wieder zurück! Wie soll sie das bezahlen?

In der "Thüringer Allgemeinen" stand kürzlich, dass Raucher anders denken. Das optionale Denken sei bei ihnen blockiert. Raucher könnten den Wert von alternativen Handlungen einfach nicht erkennen - etwa den des Nichtrauchens. Stand da wirklich drin.

Zehn Deutsche sind viel dümmer als fünf Deutsche, hatte Heiner Müller einst gesagt. Er würde das heute sicher präzisieren. Müller, das war dieser Dramatiker mit der dicken Zigarre, Nachfolger eines Dramatikers mit noch dickerer Zigarre. Was machen wir eigentlich mit der ganzen verqualmten Literaturgeschichte?

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