Zehn Jahre Frieden: Boomtown Belfast
Der Konflikt in Nordirland scheint befriedet. Nun versuchen beide Parteien, ihre gewalttätige Vergangenheit für Touristen aufzubereiten.
Von der Terrasse des Restaurants Bá Mizu hoch über der Stadt sieht man die Symbole des neuen und des alten Belfast: im Vordergrund das Riesenrad, die Luxushotels und die Einkaufsmeile, am Horizont die beiden gelben Kruppkräne „Samson“ und „Goliath“ am östlichen Rand des Hafens, wo 1911 die „Titanic“ vom Stapel lief. Die Kräne gehören Harland & Wolff, der einst größten Werft der Welt, die oft im Mittelpunkt des Nordirland-Konflikts stand. Antikatholische Pogrome hatte es schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts auf der Werft gegeben. Und am 21. Juli 1920, während des Unabhängigkeitskriegs, kam es in Belfast zu einer Massenversammlung protestantischer Arbeiter. Bewaffnet mit Knüppeln, prügelte man die katholischen Arbeiter hinaus, viele wurden einfach ins Wasser geworfen. Die letzten Katholiken sind 1974 vertrieben worden, als die Werftarbeiter eine führende Rolle beim protestantischen Generalstreik spielten, durch den die Regionalregierung gestürzt wurde, weil ihr auch Katholiken angehörten.
Irland Information, Gutleutstraße 32, 60329 Frankfurt, Mo.-Fr. 9-18 Uhr, Tel. (0 69) 66 80 09 50, E-Mail: info@entdeckeirland.de, www.entdeckeirland.de/belfast
Belfast Welcome Centre 47, Donegal Place, Belfast BT1 5AD. Tel. +44 28 90 24 66 09, www.gotobelfast.com
Titanic Quarter, Queens Road, Belfast BT3 9DU, Tel. +44 28 90 53 45 90, www.titanicquarter.com
Touren in Belfast: Fáilte Feirste Thiar, Promoting West Belfast Tourism, 212 Falls Road, Gaeltacht Quarter, Belfast BT12 6AH, +44 28 90 80 61 81, www.visitwestbelfast.com
Coiste Political Tours, Tel. +44 28 90 20 07 70, Mo.-Fr. 11 Uhr, So. 14 Uhr, Ab Divis Towers Falls Road, West Belfast
Taxi Association Tours, Touren nach Vereinbarung, Tel. +44 28 90 31 57 77
Shankill Partnership Spectrum Centre, 331 Shankill Road, Belfast BT13 3AA, Tel. +44 28 90 31 14 55, www.shankilltourism.com
Diese Ära, so hofft man in Nordirland, hat man hinter sich gelassen. Vor zehn Jahren, am Karfreitag 1998, wurde das Belfaster Abkommen unterzeichnet. Danach kamen die ersten Investoren. Seit einem Jahr regiert eine Mehrparteienkoalition, geleitet von den früher verfeindeten Parteien Sinn Féin, dem politischen Flügel der Irisch-Republikanischen Armee (IRA), die vergeblich für ein vereintes Irland gekämpft hat, und der Democratic Unionist Party des Protestantenpfarrers Ian Paisley, die für den Verbleib Nordirlands im Vereinigten Königreich eintritt.
Vom Friedensprozess beflügelt, erlebt Belfast einen Aufschwung, der die nordirische Hauptstadt in die Liste der „zehn aufstrebenden Städten der Welt“ des Reiseführers „Lonely Planet“ katapultiert hat. Im Zentrum sind Wohnhäuser, Hotels, Einkaufszentren und Bürogebäude entstanden, Straßen, Plätze und Altbauten wurden saniert, am Ufer des Lagan gibt es nun ein Konferenzzentrum und einen Vergnügungskomplex. 1994, als die IRA ihren Waffenstillstand verkündete, übernachteten 200.000 Menschen in Belfast, jetzt sind es über eine Million im Jahr. Die neueste Attraktion ist das 400 Millionen Pfund teure Einkaufszentrum Victoria Square, zu dem das Restaurant Bá Mizu im Nobelkaufhaus House of Fraser gehört. Auf 75.000 Quadratmetern sind 98 Läden angesiedelt, die Verkaufsfläche in der Innenstadt ist auf einen Schlag um ein Drittel gewachsen.
Nur einen Steinwurf entfernt ist der nächste Bau der Superlative, die Royal Exchange mit 40.000 Quadratmetern Ladenfläche, bereits in der Planung. Das ambitionierteste Projekt ist jedoch das Titanic Quarter. Hier, auf dem früheren Grundstück von Harland & Wolff, soll ein Hightech-Park entstehen, in dem einmal 10.000 Menschen arbeiten werden. Forschung und Entwicklung, akademische Ausbildung, kombiniert mit Freizeitangeboten und Wohnraum - das sind die Schlagworte, mit denen man weitere Investoren anlocken möchte. Hotels, Restaurants, ein Open-Air-Theater und ein Besucherzentrum, in dessen Mittelpunkt die „Titanic“ stehen wird, sollen die Anlage auch für Touristen attraktiv machen. Denen wird ein elektronischer Führer an die Hand gegeben, der sie interaktiv zu den Stätten des einst blühenden Schiffbaus führt. Die imposante Eingangshalle des früheren Hauptquartiers von Harland & Wolff mit dem großen Zeichenbüro, wo die „Titanic“ entworfen wurde, das Trockendock mit Pumpenhaus, wo sie gebaut wurde, und die Rampe, wo sie vom Stapel lief, werden restauriert und in das Gesamtprojekt integriert.
Noch ist weit und breit Brachland, doch vieles soll bis zum 31. Mai 2011 fertig sein, denn das ist der 100. Jahrestag des Stapellaufs. Diesen Tag will man feiern, denn als die „Titanic“ Belfast verließ, war sie noch intakt, so betont man bei der Projektleitung. Der 14. April 1912, als das Schiff auf seiner Jungfernfahrt gegen einen Eisberg fuhr und 1.500 Menschen in den Tod riss, erinnert zu sehr an Untergang, und das passt nicht zum neuen Belfast, wo sich Optimismus breitgemacht hat. Dieser Optimismus ist auch an den ehemaligen Brennpunkten des Konflikts zu spüren. Nur wenige Schritte vom Zentrum entfernt sind katholische und protestantische Viertel wie ein Flickenteppich angeordnet. Wo sie aneinanderstoßen, kam es früher fast jede Nacht zu Krawallen, vor allem im Westen mit den Vierteln um die katholische Falls Road und die protestantische Shankill Road.
„Während des Konflikts kamen vor allem die Polittouristen“, sagt Harry Connolly. „Aber mit dem Friedensprozess öffnen sich andere Märkte.“ Connolly, ein großer Mann mit kurzen Haaren und dünnem Vollbart, ist gerade 22 Jahre alt geworden. Seit Dezember arbeitet er als Koordinator für die Tourismusentwicklung der Gegend um die Falls Road. „Der Staat steckt viel Geld in die großen Projekte wie das Titanic Quarter“, sagt er. „Aber langsam beginnt man, auch die lokalen Initiativen zu fördern.“ Noch aber kommen die Touristen in ihren Bussen, schauen sich die Wandgemälde an und verschwinden wieder. Die lokale Wirtschaft profitiert nicht davon. Deshalb müsse man die Infrastruktur verbessern, sagt Connolly: „Es gibt bisher keine Übernachtungsmöglichkeiten. Demnächst sollen ein Hotel, eine Jugendherberge und ein Versöhnungszentrum mit Unterkünften entstehen.“ Seine Organisation „Fáilte Feirste Thiar“ arrangiert Fortbildungskurse für expansionsfreudige Kleinunternehmen im Tourismussektor. Die „Black Taxis“ zum Beispiel: Diese Linientaxis sind in den katholischen und protestantischen Vierteln, wo die öffentlichen Busse in der heißen Phase des Konflikts ihren Dienst eingestellt hatten, das alternative und billigere Verkehrsmittel. Viele bieten Touren zu den Schauplätzen des Konflikts an.
Wer lieber zu Fuß geht, kann sich von ehemaligen IRA-Gefangenen durch das Viertel führen lassen. Der Spaziergang endet am Cupar Way, der Grenze zur protestantischen Shankill Road. Hier übernehmen frühere Gefangene loyalistischer Organisationen die Touristen, führen sie zu den Sehenswürdigkeiten ihres Viertels und bringen ihnen ihre Sichtweise des Konflikts nahe. Falls und Shankill sind am Cupar Way durch eine große Mauer getrennt, auf die ein hoher Zaun montiert ist. Diese „Friedenslinie“ gehört zu den Besucherattraktionen, sie ist mit Malereien verziert. Es ist aber keineswegs die einzige Mauer, die katholische und protestantische Viertel in Belfast trennt. 1994, zu Beginn des Waffenstillstands, gab es neun solcher Mauern, heute sind es mehr als 40. Und sie seien noch immer notwendig, finden die meisten Anwohner auf beiden Seiten. Als jemand im Stadtrat den Vorschlag machte, die Mauern abzureißen, gab es einen Aufschrei. „Zwar haben die Spannungen zwischen beiden Bevölkerungsgruppen nachgelassen“, meint Connolly, „aber hin und wieder fliegen Steine oder Flaschen. Die Leute fühlen sich mit den Mauern sicherer.“ Aber es wäre wünschenswert, dass es mehr gemeinsame Aktivitäten rund um die Mauern gäbe.
Roz Small glaubt auch, dass die Mauern erst in ein, zwei Generationen abgerissen werden können. Die rundliche 37-Jährige arbeitet bei Shankill Partnership, dem protestantischen Äquivalent zu Harry Connollys Organisation. Beide Gruppen haben gemeinsam einen Stadtplan der beiden Viertel erarbeitet, auf dem die Sehenswürdigkeiten verzeichnet sind. Je nachdem, wie man ihn faltet, steht entweder „Shankill“ oder „Falls“ auf dem Titel. Die Lebensbedingungen und die sozialen Probleme haben sich in den beiden Vierteln schließlich nie sonderlich unterschieden, sagt Small. Aber nur ein einziges Mal haben die Menschen gemeinsam gekämpft. Das war im Oktober 1932, als die Arbeitslosigkeit dramatisch gestiegen war. Es kam es zu den sogenannten Hunger-Krawallen.
Smalls recht chaotisches Büro liegt im Erdgeschoss des Spectrum Centre, einem 3.600 Quadratmeter großen Mehrzweckgebäude mit Konferenzräumen, einem Auditorium, einem Tonstudio, einem Restaurant und einem Animationsstudio. Das ist die neue Shankill Road. Gegenüber findet man ein Relikt aus Zeiten, die man überwinden möchte: Den „Ulster Souvenir Shop“ mit Porträts der Queen und des alten Protestantenführers Edward Carson sowie dem verwitterten Spruch am Giebel „Eine Insel - zwei Nationen“.
Ein Stück die Straße herunter, neben dem Iceland-Supermarkt, wird auf einer anderen Giebelwand an die fünf IRA-Anschläge auf der Shankill Road erinnert, bei denen 25 Menschen starben. „Die Wandgemälde sind unsere wichtigste Attraktion“, sagt Small. „Der Reisejournalist Simon Calder hat sie zur bedeutendsten Sehenswürdigkeit im Vereinigten Königreich erklärt.“ Der Staat hat drei Millionen Pfund zur Verfügung gestellt, damit die alten, blutrünstigen Bilder durch neue mit historischen oder kulturellen Motiven ersetzt werden. Der Großteil des Geldes geht an die protestantischen Viertel, denn auf katholischer Seite sind die meisten paramilitärischen Wandbilder schon vor Jahren verschwunden.
„Die Wandgemälde und die Friedensmauern sind aber nur kurzfristige Attraktionen“, sagt Small. „Doch wir haben mehr zu bieten: Die Leinenindustrie, die beiden Weltkriege, die Frühgeschichte. Am Ende der Shankill liegt eine der frühesten Ansiedlungen Belfasts mit Forts aus der Bronzezeit.“ Auch Small klagt, wie Connolly, über die fehlende Infrastruktur. Am dringlichsten seien die Hinweistafeln, damit die Touristen auf den Stadtrundfahrten, bei denen man jederzeit aus dem Bus aussteigen und in den nächsten wieder einsteigen kann, wissen, wo sie sind und vielleicht ihre Fahrt auf der Shankill unterbrechen. „Sonst sitzen wir weiter in unserem Goldfischglas“, sagt Small, „und werden bestaunt von den durchreisenden Besuchern, denen bei den Gruselstorys aus Konfliktzeiten ein wohliger Schauer über den Rücken läuft.“
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