Bagdader Familie im ägyptischen Exil: "Irakisches Chaos hochgeschwappt"

Seit fünf Jahren herrschen Krieg und Chaos im Irak. Weil es immer gefährlicher wurde, hat die Familie Radwan Bagdad verlassen und lebt jetzt in Kairo. Ihre Flucht haben sie nie bereut.

In Bagdad lebte Familie Radwan in ständiger Angst vor Anschlägen. : dpa

KAIRO taz Es ist fünf Jahre her, da saßen wir zusammen beim Mittagessen am Küchentisch in ihrem Haus im Norden Bagdads, wenige Tage bevor der Krieg ausbrach. Der Landwirtschaftsingineur Zuhair, seine Frau Intisar und die beiden Töchter Sarah und Samma. Die Mädchen spielten draußen im Garten und wir diskutierten darüber, wie man den beiden damals sieben- und neunjährigen Mädchen am schönsten beibringt, was auf sie zukommt. In den Medien war von US-amerikanischen Plänen die Rede, laut denen in der ersten Nacht 400 Marschflugkörper abgefeuert und 3.000 Bomben abgeworfen würden. Kann man ein solches Szenario den Kindern erklären?

Der Einmarsch der US-Truppen im März 2003 sowie zahlreiche Attentate nach dem Sturz Saddam Husseins kosteten mehrere zehntausend irakische Zivilisten das Leben; verlässliche Zahlen gibt es bisher nicht.

2,5 Millionen Menschen sind vor der Gewalt aus dem Irak geflüchtet, die meisten in die Türkei, Syrien, Jordanien und Ägypten. 2007 ersuchten fast 40.000 Iraker um Asyl in der EU.

Am Dienstag eskalierte in der Hafenstadt Basra nach zwischenzeitlicher Ruhe erneut die Gewalt. Irakische Regierungstruppen starteten dort eine Offensive gegen Anhänger des radikalen schiitischen Predigers Muktada al-Sadr. Seit Dienstag starben über 40 Menschen, und über 200 wurden verwundet, darunter viele Zivilisten.

In den ersten Kriegstagen haben wir dann regelmäßig telefoniert. "Bei den Luftangriffen verhalten wir uns inzwischen immer nach einem ähnlichen Muster. Meine Frau singt unseren verängstigten Töchtern während der lauten Einschläge Kinderlieder vor und dann wird meist die Musik aufgedreht und getanzt. Ich habe gestern das erste Mal Flamenco getanzt", erzählte Zuhair am Telefon. Neun Tage nach dem Fall der Saddam Statue im Zentrum Bagdads sahen wir uns wieder. Es sei schwer zu erklären, was in ihnen vorging, sagten beide damals. Zuhair versuchte es trotzdem: "Saddam war wie ein Vater, der dich ständig schlägt und misshandelt, und dann kommt jemand und bringt ihn um." Intisar saß schweigend auf dem Rücksitz bei ihrer ersten Fahrt durch Post-Saddamsche Bagdad. Wir fuhren vorbei an geplünderten und ausgebrannten staatlichen Institutionen. Intisar hielt ihre Hände vor den Mund, als wir an einer Gruppe von Männern vorbeifuhren, die gerade dabei war, große Säcke mit Lebensmitteln aus einem staatlichen Lager zu plündern.

Wie soll man sich in diesen neuen Zeiten zurechtfinden? Zuhair, der zwar ein Ingenieursstudium hinter sich hatte, sich aber jahrelang über Wasser hielt, indem er für Zeitungen kulturhistorische Artikel schrieb, wollte sein Englisch mit Kursen im Britischen Kulturinstitut verbessern, das hoffentlich bald wieder aufmachen würde.

Die einstige englische Literaturstudentin Intisar, die früher als Sekretärin bei der DDR-Nachrichtenagentur ADN gearbeitet hatte, war bei der deutschen Hilfsorganisation "Architekten für Menschen in Not" tätig. Ihr exzellentes Englisch werde ihr wohl gute Chancen in einem neuen Irak eröffnen, hatten wir gedacht, während Zuhair sich auf ein neues, lebhaftes intellektuelles Leben in der Stadt freute. In Zukunft müssten er und seine Freunde sich nicht mehr heimlich an den Schergen Saddams vorbei Bücher und Zeitschriften besorgen und sich gegenseitig ausleihen, bis sie total zerfleddert sind. In Zuhairs Lieblingscafé, direkt am freitäglichen Büchermarkt, könnte er dann offen über alles mit seinen Freunden diskutieren. So sehr sie das Saddam Regime gehasst hatten, so skeptisch waren sie gegenüber den neuen Herren der Stadt. "Kein Hallo für unseren Feind", ermahnte Intisar ihre Töchter, als einer der US-Panzerfahrer aus seiner Luke winkte.

Jetzt, fünf Jahre später, sitzen wir wieder zusammen am Küchentisch, allerdings nicht in Bagdad, sondern in Kairo. Die Familie war im Sommer vor zwei Jahren aus Bagdad nach Ägypten geflohen. Sie hatte es einfach nicht mehr ausgehalten. Einmal explodierte ein Bombe neben der Schule der Mädchen, im Sommer 2005. Später kamen zur ständigen Angst vor Anschlägen noch die Milizen und Todesschwadronen hinzu. "Immer, wenn wir zur Arbeit oder zu Schule mussten, wussten wir nicht, ob wir uns am Abends wiedersehen", erinnert sich Intisar. Und dann abends zu Hause sei sie jedes Mal zusammengezuckt, wenn das Gartentor klapperte. "Ich dachte, jetzt kommen die Milizen und holen meinen Mann". Zuhair, der inzwischen als Journalist bei der unabhängigen irakischen Tageszeitung Al-Mada in Bagdad arbeitete, saß eines Tages im Büro an seinem Computer, als das Internet ausfiel. Er war gerade von seinem Arbeitsplatz aufgestanden, um im Nebenzimmer den Techniker zu suchen, als die Bombe vor dem Gebäude explodierte. Als Zuhair zu seinem Arbeitsplatz zurückkehrte, war sein Schreibtisch von Trümmern der heruntergestürzten Decke bedeckt.

Das traurigste in den letzten fünf Jahren war, den Hausstand in Bagdad zusammenzupacken,sind sich Intisar und Zuhair einig. "Jedes einzelne Stück dort haben wir gekauft, gesammelt oder geschenkt bekommen und dann musst du dich entscheiden, welche wenigen Sachen du in den wenigen Koffern mitnimmst", erinnert sich Zuhair. Die Fotoalben hatte er schließlich eingepackt, obwohl sie einen Grossteil der Tasche in Anspruch nahmen: "Das war unser Leben, dachte ich damals, dass muss unbedingt mit." Dann kamen die Leute aus der Nachbarschaft und nahmen den Rest mit. Zuhair ist noch einmal durch das leere Haus gegangen. "Alle meine Erinnerungen waren weg. Ich fühlte mich wie im Koma." Die letzte Nacht verbrachte die Familie auf einem Teppich auf dem Dach. Die Matratzen waren weg. "Wir hören Schüsse in der Nähe des Hauses, da haben die Eltern ihre Töchter in die Mitte genommen und an sich gedrückt. "Bis zum Morgen habe ich wach gelegen", erinnert sich Zuhair, bis schließlich das Taxi kam, um die Familie zum Flughafen zu bringen.

Die Flucht war die beste Entscheidung ihres Leben, meinen Zuhair und Intisar heute. Manchmal gehe er durch die Strassen von Kairo und habe dabei das gleiche Gefühl, als wenn man aus dem Schlaf aufwacht und im ersten Moment nicht genau weiß, wo man ist, beschreibt Zuhair seine Gefühle. Es war ein dramatischer Wechsel. "Ich bin 55 Jahre alt, in den nächsten Jahren hätte ich eigentlich an meine Pension denken müssen. Stattdessen muss ich jetzt mit meiner Familie ein neues Leben aufbauen", sagt er. Zuhair hat Glück gehabt. Seit Beginn des Jahres arbeitet er in einer ausländischen Nachrichtenagentur in Kairo. Intisar hat diesen Monat bei einer privaten ägyptischen Organisation angefangen, die Schulprojekte für Kinder aus den Armenvierteln Kairos koordiniert.

Anders als viele der mehr als zwei Millionen Iraker, die seit dem Krieg ihre Koffer gepackt haben und meist nach Syrien, Jordanien und Ägypten gekommen sind, hat die Radwan-Familie damit ein gesichertes Auskommen. Ob sie an Rückkehr denken, wenn sich die Lage im Irak verbessern würde? Zuhair kommt mit einem historischen Vergleich. "Verbrennt die Schiffe", hatte der arabische Feldherr Tarek Ben Ziad bei der Eroberung Andalusien seinen Männern befohlen, nachdem sie die Meerenge von Gibraltar überquert hatten. Selbst wenn sich die Sicherheitslage verbessere, der Irak und die Menschen seien nicht mehr das gleiche, wirft Intisar ein. "Ich dachte am Anfang immer, das Problem seien die Amerikaner. Inzwischen glaube ich, dass die Iraker selbst das Hauptproblem darstellen", bricht es aus Zuhair heraus. "Die Amerikaner haben den Kanaldeckel hochgehoben und dann kam das irakische Chaos herausgeschwappt". Zu Saddams Zeiten, als die Leute Angst hatten zu reden, habe Zuhair immer gedacht, in ihren Gedanken wollten alle Iraker das gleiche, einen demokratischen und säkularen Staat. Nach dem Sturz Saddam hätten sie entdeckt, dass die Unterschiede größer seien als die Gemeinsamkeiten. Keiner wüsste mehr, wer zu wem gehört.

Ob sie etwas anders gemacht hätten, wenn sie vor fünf Jahren gewusst hätten, wie sich der Irak entwickelt? Zuhair erzählt die Geschichte eines Freundes, der ihn nach dem Krieg gefragt hatte, ob er mit ihm in der US-Botschaft arbeiten wolle. Sie bräuchten gute und ehrliche Leute, um die Amerikaner zu beraten, wie das Land in die richtige Richtung zu lenken sei. Damit die Amerikaner nicht nur von dem Haufen korrupter Iraker beraten würden, die sie bei der Invasion mitgebracht hatten, argumentierte sein Freund. Zuhair lehnte es ab, mit den Besatzern zusammenzuarbeiten. "Vielleicht war das ein Fehler", denkt er manchmal heute. "Indem die ehrlichen, säkularen, nicht korrupten Itaker sich weigerten mit den Amerikanern zusammenzuarbeiten, haben wir das Feld den Gangstern überlassen". Was wäre besser gewesen? Fünf Jahre länger Saddam oder fünf Jahre US-Besatzung? Eine lange Pause - die beiden zögern. "Das kann ich nicht beantworten", sagt Zuhair zunächst. "Zu Saddams Zeiten gab es die Hoffnung auf Veränderung, heute ist das Land politisch und gesellschaftlich so zerstört, dass es sich nicht wieder aufbauen lässt", versucht er es trotzdem. "Im Prinzip ist es egal", wirft Intisar ein. Saddam war unerträglich und wir hatten keine Wahl, und später hatten wir auch keine andere Wahl, als das Land zu verlassen", sagt sie. Irakerin zu sein, das hieß in den letzten Jahrzehnten, von Umständen hin und her geworfen zu werden, auf die sie keinerlei Einfluss gehabt habe. Saddam Hussein, acht Jahre Krieg mit dem Iran, zwei Kriege mit den Amerikanern, fünf Jahre Besatzung und jetzt ein völlig zerstörtes Land. "Ich habe mein ganzes Leben verloren", fasst die 49jährige Irakerin zusammen.

Sie sagt das ohne große Regung, starrt nur gerade aus, in die Leere ihrer Kairoer Exilwohnung. "Meine Gefühle", fügt sie noch leise hinzu, "die sind dabei abgestorben".

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.