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EU und die TürkeiRatschläge aus Brüssel

Was hochrangige Vertreter der Europäischen Union zum möglichem Verbot der türkischen Regierungspartei AKP zu sagen haben, sorgt in Ankara für heftige Reaktionen.

Mancher freut sich über seinen Besuch: Der türkische Premier Erdogan (r.) begrüßt EU-Kommissionschef Barroso. Bild: reuters

ISTANBUL taz "Wir sind besorgt. Eine Partei verbieten zu wollen, die erst vor acht Monaten einen großen Wahlsieg errungen hat, ist nicht normal. Wir sind für Säkularismus, aber für einen demokratischen Säkularismus." Mit diesen Statements vom Donnerstag, unmittelbar vor dem Beginn seines dreitätigen Türkeibesuchs, hat EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso bereits im Vorfeld für heftige Auseinandersetzungen gesorgt.

Wegen unangemessener Einmischung und dem angeblichen Versuch, die türkische Justiz unter Druck zu setzen, versuchten die beiden großen Oppositionsparteien Barrosos Rede vor dem Parlament zu verhindern. Auch wenn der erste Besuch des EU-Kommissionspräsidenten in der Türkei für Januar geplant war und deshalb rein formal nicht als Reaktion auf das Verbotsverfahren gegen die regierende AK-Partei gewertet werden kann, zeigt die EU doch deutlich Flagge. Zunächst hatte Erweiterungskommissar Olli Rehn gesagt, dass solche Fragen, wie sie nun das Verfassungsgericht bearbeitet - ob nämlich die AKP die Islamisierung des Landes betreibe -, in Europa an der Wahlurne und nicht im Gerichtssaal entschieden werden. Dann legte der EU-Außenbeauftragte Javiar Solana nach: Ein AKP-Verbot. sagte er, hätte unweigerlich Konsequenzen für den Beitrittsprozess der Türkei.

Barroso vermied es am Donnerstag jedoch, über die Konsequenzen eines möglichen Verbots der AKP zu spekulieren. Stattdessen forderte er die Türkei dazu auf, zur Reformpolitik der Zeit zwischen 2002 und 2005 zurückzukehren.

Tatsächlich hat die Regierung nach zwei Jahren des Herumlavierens entschieden, in der kommenden Woche eine Modifizierung des berüchtigten "Türkentums"-Artikels 301 des Strafgesetzbuchs ins Parlament zu bringen. Doch statt diese Beschränkung der Meinungsfreiheit abzuschaffen, soll nun lediglich der Begriff Türkentum durch die "türkische Republik" ersetzt werden. Juristen befürchten, dass auch mit den neuen Formulierungen der Willkür Tür und Tor geöffnet sein wird. Um so peinliche Verfahren wie das gegen den Schriftsteller Orhan Pamuk zu verhindern, soll für die Eröffnung eines Verfahrens nach Artikel 301 jedoch künftig immer die Einwilligung des Staatspräsidenten notwendig sein.

Auch die weiteren Reformvorschläge, die die AKP demnächst in einem neuen Paket vorlegen will, sind noch unpräzise, außer dass darin eine Verfassungsänderung enthalten sein soll, die Parteiverbote erheblich erschwert. Ob eine solche Verfassungsänderung, so sie denn zustande kommt, auf das laufende Verfahren gegen die AKP noch Einfluss hat, ist ebenfalls höchst umstritten.

Mit dem gemeinsamen Besuch von Barroso und Rehn hat aber immerhin die EU nach fast zweijähriger Pause wieder signalisiert, dass sie die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei noch nicht ganz abgeschrieben hat. Bis Juli, so Barroso, sollen zwei weitere Verhandlungskapitel eröffnet werden.

Entscheidender für zukünftige Fortschritte dürfte aber sein, wie sich die Verhandlungen auf Zypern gestalten. Sollten dort demnächst substanzielle Fortschritte gemacht werden, wäre eines der größten Hindernisse aus dem Weg geräumt.

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2 Kommentare

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  • BK
    Bülent Kalkan

    Ich möchte nur eine Festrede vom 1963 zum Erinnerung bringen. Vielleicht hilft es Türken besser verstehen.

    MfG

    Bülent Kalkan

    Wörth am Rhein

     

    ASSOZIIERUNG DER TÜRKEI

     

    FESTREDE VON DEM KOMMISSIONSPRÄSIDENTEN WALTER HALLSTEIN

     

    UNTERZEICHNUNG DES ASSOZIATIONSABKOMMENS

     

    Ankara 12. September 1963

     

    Es ist mir eine Freude und eine Ehre, in dieser festlichen Stunde für die Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft das Wort zu ergreifen. Das Assoziierungsabkommen, das heute hier unterzeichnet wird, ist das Ergebnis langer Verhandlungen, deren Schwierigkeiten nur dank der Initiative, dem Mut und der Beharrlichkeit aller Beteiligten überwunden werden konnten. So möchte ich zunächst ein Wort des Dankes richten an die türkische Regierung und ihre Delegation, die uns als Partner in einem kameradschaftlichen Geist gegenübergetreten ist, aber auch an meinen Freund und Kollegen Jean Rey, dessen Verdienst hauptsächlich es innerhalb der Kommission gewesen ist, dass wir das Vertragswerk schaffen konnten. Ich weiß, dass ich in seinem Sinne spreche, wenn ich in diesen Dank auch alle seine Mitarbeiter einbeziehe, die unter seiner Leitung gearbeitet haben. In dem gegenseitigen Verständnis, das beide Delegationen an den Tag gelegt haben - die türkische für die Ideale und die Prinzipien des Vertrages von Rom, die unsrige für die Besonderheiten des türkischen Tatbestandes - ist bereits das wesentliche Stück einer Assoziation auf eine Weise sichtbar geworden, die uns zu schönen Hoffnungen berechtigt, nämlich die Gemeinschaftsgesinnung: Offenheit füreinander und Solidarität.

    Wir sind heute Zeugen eines Ereignisses von großer politischer Bedeutung.

     

    Die Türkei gehört zu Europa. Das ist der tiefste Sinn dieses Vorgangs: Er ist, in der denkbar zeitgemäßesten Form, die Bestätigung einer Wahrheit, die mehr ist als ein abgekürzter Ausdruck einer geographischen Aussage oder einer geschichtlichen Feststellung, die für einige Jahrhunderte Gültigkeit hat.

     

    Die Türkei gehört zu Europa: Das ist vielmehr vor allem die Erinnerung an die gewaltige Persönlichkeit Atatürks, dessen Wirken uns in diesem Lande auf Schritt und Tritt zum Bewusstsein gebracht wird, und an die von ihm bewirkte radikal europäische Erneuerung des türkischen Staates in allen seinen Lebensäußerungen. Das Ereignis hat seinesgleichen nicht in der Geschichte der Ausstrahlungen europäischer Kultur und Politik, ja wir fühlen hier eine Wesensverwandtschaft mit dem modernsten europäischen Geschehen: der europäischen Einigung. Ist es nicht Geist von unserem Geist, den wir hier verspüren: jene aufgeklärte, rationale, schonungslos realistische Haltung; der methodische Gebrauch modernen Wissens, der Wert, der auf Schulung und Erziehung gelegt wird; die fortschrittliche und willenskräftige Dynamik; die unbefangene Pragmatik in der Wahl der Mittel. Was ist daher natürlicher als dass sich Europa - das Europa, das der freie Ausdruck seiner selbst ist - und die Türkei in ihren Aktionen und Reaktionen identifizieren: militärisch, politisch und wirtschaftlich.

     

    Die Türkei gehört zu Europa: das heißt nach den heute gültigen Maßstäben, dass sie ein verfassungsmäßiges Verhältnis zu der Europäischen Gemeinschaft herstellt. Wie diese Gemeinschaft selbst, so ist auch jenes Verhältnis von dem Gedanken der Evolution beherrscht.

    Dennoch steht auch die Türkei vor schwierigen Problemen: Die bereits angelaufene Industrialisierung muss weitergeführt, die maximale Nutzung der Rohstoffvorkommen gesichert, die Landwirtschaft ausgebaut werden. Dies alles ist nötig, weil es zu einem modernen Staat gehört und auch um die Zukunft des türkischen Volkes zu sichern, das so schnell wächst wie kaum ein anderes Volk der Erde. Die Aufgabe ist schwer, und sie wird sicher nicht von heute auf morgen zu lösen sein. Aber Ihre Regierung, Ihr Volk haben sie mit bewundernswertem Mut angefasst und dürfen heute schon mit Stolz die ersten Erfolge verzeichnen.

     

    Weitere Erfolge stehen Ihnen bevor, gewiss gefördert durch Ihr Zusammengehen mit der Gemeinschaft, die mithelfen wird, damit Ihre Ziele, vor allem die des Fünfjahresplans, voll erreicht werden. Mit Inkrafttreten des Abkommens werden auch die darin vereinbarten wirtschaftlichen und finanziellen Vorteile, die eine beträchtliche Hilfe darstellen, es der Türkei möglich machen, ihren Export in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft zu verstärken und ihre Produktionskapazitäten auszubauen. Das Abkommen sieht darüber hinaus vor, dass die Türkei in naher Zukunft ihre Beziehungen zur Gemeinschaft noch intensivieren soll und zu einer echten Wirtschaftsunion gelangen kann, in der wir nach wie vor das Zeichen einer echten Integration sehen. So ist die Assoziierung nicht nur für die Türkei von Nutzen, sie kommt auch den Interessen der Gemeinschaft entgegen.

     

    Wir stehen also am Beginn einer Ära enger Zusammenarbeit zwischen der Türkei und der Gemeinschaft. Beide Seiten werden sich im Assoziationsrat begegnen und dort als gleichberechtigte Partner ihre Sorgen besprechen und sich in diesem neuen Geiste um die Beilegung etwa auftauchender Schwierigkeiten bemühen. Getragen von den gleichen Vorstellungen, werden sie gemeinsam überlegen, wie sie diese im Rahmen der Assoziation verwirklichen können. Und eines Tages soll der letzte Schritt vollzogen werden: Die Türkei soll vollberechtigtes Mitglied der Gemeinschaft sein. Dieser Wunsch und die Tatsache, dass wir in ihm mit unseren türkischen Freunden einig sind, sind der stärkste Ausdruck unserer Gemeinsamkeit.

     

    Quelle:

    Walter Hallstein: Europäische Reden. Deutsche Verlags-Anstalt, 1979. Seiten: 438-440

  • JB
    Jürgen Busch, Hamburg

    Ganz so einfach wie die taz es darstellt und wie die Anhänger der türkischen Demokratie Barroso, Rehn und Solana es sich vorstellen, ist es denn doch nicht. Zur Demokratie gehört der Rechtsstaat und damit die Achtung vor den Gerichten.

    In unserer deutschen Geschichte gab es doch einmal eine Partei, die zuletzt mit überwältigender Mehrheit gewählt worden war und die mit ihrer Politik Europa und die Welt im Blut fast ertränkt hätte. Ein Verfassungsgericht, das diese Partei verboten hätte ? ach, was sollen uns solche Träume? (Ich betone ausdrücklich, daß ich mit diesem Hinweis ausschließlich das Verhältnis aufzeigen will zwischen der Bedeutung der Anzahl der Stimmen, die eine Partei bei einer Wahl erhält, und der Bedeutung der Verfassung eines Landes. Es spricht nicht gegen ein Land, wenn es seine Verfassung nicht ständig ändert. Von manchen unserer europäischen Nachbarn können wir lernen; nicht jedes andere zivilisierte Land ändert seine Verfassung so oft wie wir unser Grundgesetz.)

     

    Ich verstehe die Reaktion von türkischer Seite gut, die sich gegen diese Art der Einmischung wehrt.

     

    Und zum Thema Zypern:

    Noch hat die Türkei einen großen Teil Zyperns mit Truppen besetzt,

    noch sind mehr als 150.000 griechischstämmige Zyprer vertrieben,

    noch werden im türkisch besetzten Teil Zyperns Grundstücke, die den vertriebenen Zyprern gehören, von der türkischen Besatzungsmacht verkauft,

    noch leben auf Zypern mehr als 100.000 nach der Besatzung dort angesiedelte Türken, die dort eine Heimat gefunden haben, z.T. in den Häusern der vertriebenen Eigentümer.

     

    Wie der Berichterstatter sich vorstellt, daß ?dort demnächst substanzielle Fortschritte gemacht werden? können, ist mir unverständlich. Ich denke auch dabei an unsere eigene Geschichte.