Gesundheitssystem in Geldnot: Ungedeckte Versicherungskarte
Das Budget reiche nicht, bekommen Patienten häufig vom Arzt zu hören - und sollen dann ihre Medikamente selbst bezahlen. Ärztevertreter fordern, die Behandlungen zu rationieren.
Mal sind es nur Augentropfen für 4 Euro, dann Inkontinenzeinlagen oder Physiotherapien - täglich melden sich Menschen bei Ralf Rötter, denen ihr Hausarzt kein Rezept ausstellen will. Verschreiben kann ihnen Rötter nichts, doch der Mitarbeiter der Unabhängigen Patientenberatung in Berlin hört zu und gibt Tipps. Rund ein Viertel der insgesamt 3.000 Ratsuchenden im Jahr ruft an, weil ihnen der Arzt medizinisch notwendige Leistungen nicht mehr verordnet: "Es heißt dann: Tut mir leid, aber mein Budget gibt das nicht her", berichtet Rötter.
Eigentlich ein Unding, denn im deutschen Gesundheitssystem gilt: Alles, was vom Gemeinsamen Bundesausschuss aus Ärzten und Kassen in den dicken Katalog der medizinisch notwendigen Maßnahmen aufgenommen wird, muss von den Ärzten verordnet und von den Krankenkassen bezahlt werden. Dazu gehören eben auch Inkontinenzeinlagen für Menschen mit schwacher Blase.
Doch die Realität sieht anders aus, wie der oberste Ärztefunktionär, Kammerpräsident Jörg-Dietrich Hoppe im Vorfeld des Deutschen Ärztetages erwähnt: In einem Interview mit der Welt spricht Hoppe von "heimlicher Rationierung" und fordert, die Geheimniskrämerei zu beenden - Rationierung ja, aber transparent.
So sollten bestimmte Kuren künftig nur noch privat bezahlt werden. Hoppe möchte die Ärzte, die sich morgen zum 111. Ärztetag in Ulm versammeln, von der Rolle des Mangelverwalters im weißen Kittel entbinden.
Von wegen Mangel, meint der Pharmakritiker und Sachverständige Gerd Glaeske: "Wir müssen nicht über Rationierung, sondern über Verschwendung reden." Arzneimittel kosten die Beitragszahler mehr als ärztliche Behandlungen. Von den 25 Milliarden Euro, die pro Jahr an die Pharmaindustrie fließen, könnten nach seinen Berechnungen 7 Prozent problemlos eingespart werden, hat Glaeske in seinem Institut am Bremer Zentrum für Sozialpolitik ausgerechnet.
Glaeske schlägt vor, dass Ärzte statt auf teure Markenarznei häufiger auf billigere Nachahmerprodukte zurückgreifen oder ganz auf Tabletten verzichten sollten. Zum Beispiel auf Antibiotika: "Es ist erwiesen, dass Antibiotika bei Erkrankungen der oberen Atemwege nichts nützen. Trotzdem sind Kinderärzte die häufigsten Verordner von Antibiotika", sagt Glaeske. Das diene nur der Beruhigung der Eltern und sei medizinisch nicht zu rechtfertigen.
Auch der Vorsitzende des Vereins Demokratischer Ärztinnen und Ärzte, Wulf Dietrich, hält Rationierung auf Kosten der Patienten für unnötig. Das sei eine Scheindebatte, die vor allem den finanziellen Interessen der Ärzteschaft entgegenkomme: "Je mehr die gesetzlichen Leistungen eingeschränkt werden, desto mehr können die Ärzte privat abrechnen." Bei Behandlungen an Privatpatienten kassieren sie das Zwei- bis Dreifache dessen, was sie an Kassenpatienten verdienen. Dietrich, der bis vor einem Jahr Katheder am Deutschen Herzzentrum in München legte, weiß, dass die Kollegen aus den Praxen mitunter auch mal ein paar zusätzliche Katheter legen - und abrechnen.
Die Mittler zwischen Ärzten und Kassen, die Kassenärztlichen Vereinigungen, fordern dagegen, 4,5 Milliarden Euro zusätzlich in den Honorartopf zu überweisen. Sonst sei die Versorgung der Patienten nicht mehr zu gewährleisten, erklärt der Chef der Bundesvereinigung, Andreas Köhler. Das wird sich politisch kaum durchsetzen lassen. Das beste Rezept für die Patienten bleibt also: "Beharrlichkeit, Beharrlichkeit, Beharrlichkeit", wie Berater Rötter ermutigt.
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