Porträt: Sehen lernen - mit den Händen
Die achtjährige Aleksandra ist von Geburt an taubblind. Dank mehrerer Spenden konnte das polnische Mädchen jetzt erstmals im Potsdamer Oberlinhaus untersucht werden.
Aleksandra steht am geöffneten Fenster, das Gesicht dem Wind zugewandt. Lau weht er von der Straße herein. Ihren quietschgelben Kunststoffbären presst sie fest an Mund und Kinn. "Der Bär vermittelt ihr Sicherheit und verhindert teilweise, dass sie sich mit harten Schlägen selbst im Gesicht verletzt", erklärt die Psychologin Katherine Biesecke, Leiterin des Oberlin-Kompetenzzentrums für Taubblinde in Potsdam. Plötzlich löst Aleksandra langsam eine Hand und streckt sie aus. Vorsichtig berühren die Fingerspitzen den hölzernen Fensterrahmen, an dem grau schillernde Spinnenweben hängen. Ob Aleksandra sie fühlen kann? "Blinde können mit den Händen sehen", murmelt Biesecke sichtlich ergriffen. Die Geste ist für Aleksandra und die Mitarbeiter des Oberlinhauses ein riesiger Erfolg. Bisher hat Aleksandra nicht gelernt, ihre Hände zu nutzen - obwohl das Ertasten eine der wichtigsten Möglichkeiten für sie zur räumlichen Orientierung ist.
Die Achtjährige ist von Geburt an blind. Sie kam bereits in der 24. Schwangerschaftswoche zur Welt, mit einem Gewicht von nur 650 Gramm. Das extrem kleine Frühgeborene musste wegen der unreifen Lunge künstlich beatmet werden. Die Schädigung der Augen - in der Fachsprache Frühgeborenen-Retinopathie - ist eine Folge der künstlichen Beatmung. Durch den hohen Sauerstoffdruck wurde die Netzhaut geschädigt, was zur Erblindung führte. Erst seit drei Jahren steht fest, dass auch Aleksandras Hörvermögen sehr stark eingeschränkt ist. Bis dahin glaubten die behandelnden Ärzte, das Mädchen sei geistig behindert - weil es nicht sprechen lernte.
Vielleicht wird das Mädchen auch zu Hause, in einem Dorf nahe der polnischen Stadt Szczecinski, das einstige Stargard, die Hände nutzen, um neue Erfahrungen zu sammeln. Das hängt vor allem von seiner Oma ab. Miroslawa Kluska ist Aleksandras wichtigste Bezugsperson, seit mehr als sieben Jahren. "Die Mutter hat ihr Kind verlassen", erzählt die 56-Jährige auf die Frage nach den Eltern. Aleksandras Vater wohnt in einer anderen Stadt, kommt aber gelegentlich zu Besuch. "Ihre Mutter hat den Kontakt völlig abgebrochen. Seitdem kümmere ich mich, so gut ich kann."
Die Bindung zwischen Oma und Enkelin ist eng. Das hat Aleksandras Persönlichkeit einerseits sehr stark gemacht, betonen die Oberlinhaus-Experten. Andererseits nahm ihr die Großmutter aus Fürsorge aber auch viel zu viel ab, etwa das Essen und das An- und Ausziehen. Um Aleksandra jedoch zu ihrem eigenen Wohl zu fördern und zu fordern, muss die Oma sie diese Alltagshandlungen künftig verstärkt allein machen lassen. Oder ihr zumindest die Chance einräumen, es zu versuchen. Nur so kann sich Aleksandra im Rahmen ihrer Fähigkeiten entwickeln.
Doch, so Miroslawa Kluska: "Was wird werden, wenn ich mich nicht mehr um das Mädchen kümmern kann?" Diese Sorge war im vergangenen Sommer das auslösende Moment für die Großmutter, für sich und ihre "Ola", wie sie Aleksandra nennt, um Hilfe zu bitten. Der Zusammenarbeit des Fördervereins PoDeSt im nordbrandenburgischen Schwedt, des Oberlinhauses und eines privaten Spenders aus Potsdam ist es nun zu verdanken, dass die Achtjährige mit ihrer Großmutter im März im Potsdamer Kompetenzzentrum für Taubblinde erstmals umfassend untersucht werden konnte. Aleksandra besuchte die Oberlin-Taubblindenschule, bekam Unterstützung von einer Esstherapeutin sowie mehrere physio- und musiktherapeutische Fördereinheiten. Und sie bekam neue, vom deutsch-polnischen Förderverein PoDeSt gespendete Hörgeräte.
Doch das Ergebnis der Untersuchungen war ernüchternd: Aleksandras Welt wird auch künftig eine ohne Licht und fast ohne Laute sein. Nur mit sehr guten Hörgeräten und gezielter Förderung wird es möglich sein, dem Kind die verbliebene Hörkraft zu erhalten. Und: Aleksandra kann nur dann sinnvoll gefördert werden, wenn die Großmutter und die Familie ihre Behinderung voll und ganz akzeptieren.
"Das Gebot der Nächstenliebe ist schon in langer Tradition die Ausgangsbasis unserer Hilfsangebote. Das Leben jedes Menschen entfaltet sich in seiner persönlichen Eigenart und hat seinen Wert", sagt Wiebke Zielinski, die Sprecherin des Diakonischen Vereins. Das fachliche Wissen beruht auf Erfahrungen aus langjähriger Arbeit mit taubblinden Menschen und deren Angehörigen.
Denn das Oberlinhaus gilt als Wiege der Taubblindenarbeit in Deutschland: 1887 wurde mit der zehnjährigen Hertha Schulz der erste taubblinde Mensch aufgenommen. Hier eröffnete 1906 das erste Taubblindenheim. Heute liegen die Schwerpunkte des Kompetenzzentrums vor allem im Aufbau von Kommunikationsmöglichkeiten für die Betroffenen. Es wird mit Methoden der Gebärdensprache, dem Tastalphabet, der Blindenschrift und der Lautsprache gearbeitet. Darüber hinaus werden die Fähigkeiten der Taubblinden zur zeitlichen und räumlichen Orientierung gefördert.
Miroslawa Kluska muss sich nun den medizinischen Befunden stellen. Das heißt für sie vor allem Abschiednehmen von Hoffnungen. Deshalb stand man der Großmutter im Oberlinhaus auch intensiv pädagogisch und psychologisch zur Seite. "Die Welt besteht nun mal aus Hindernissen. Wenn sie immer weggeräumt werden, lernt man nicht, ihnen zu begegnen", sagt Biesecke. Diese Feststellung betrifft Aleksandra und ihre Großmutter. Hauptziel jeder Form von Förderung wird es sein, so Biesecke, dem taubblinden Kind weitestgehende Selbstbestimmung und Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen. Dazu gehöre vor allem, Wege aus der Isolation aufzuzeigen. Das ist wie die Suche nach einer Brücke durch die Finsternis in eine wortlose Welt.
Freude, Erfolg und Wohlbefinden sind bewährte Mittel gegen die Einsamkeit. So entsteht Kontakt zur Umwelt. Aleksandra tanzt im Musiktherapieraum. Die geschlossenen Augen verleihen ihrem schmalen Gesicht einen Zug Verträumtheit. Es scheint, als spräche aus ihr Selbstvergessenheit, aber ihr zarter Körper drückt eine überraschende Präsenz im Hier und Jetzt aus. Die sorgfältig geflochtenen Zöpfe wippen bei jeder Bewegung frech hin und her. Tastend schieben sich Aleksandras grün bestrumpfte Füße über den Holzboden, der sie die Musik als Vibrationen spüren lässt. Die Achtjährige erspürt die Impulse. Kurz erfüllt Aleksandras gurrendes Kinderlachen den Raum, schiebt für wenige Augenblicke den bleiernen Riegel zwischen den Welten beiseite.
"Aleksandra lebt ohne oder mit sehr eingeschränkter Vorstellung ihrer näheren und ferneren Umgebung", verdeutlicht Biesecke. Trotzdem hat das Mädchen aufgrund ihres ausgeprägten Selbstvertrauens den Mut, ihr Umfeld zu erkunden. Auch wenn es nur der Raum ihrer Armlänge ist. Man meint, förmlich zu spüren, wie sehr sie teilen und teilhaben möchte. Ihre Aufgeschlossenheit ist umso erstaunlicher, als Aleksandra in den zurückliegenden Jahren kaum gefördert worden ist.
Während Oma und Enkelin die Koffer packen, wird zur weiteren Unterstützung von Aleksandras Therapie eine Benefizlesung geplant. Nicht im Traum habe sie sich vorstellen können, wie gut taubblinde Kinder zurecht kommen können, sagt Miroslawa Kluska zum Abschied. "Hier habe ich zum ersten Mal gesehen, was Behinderte wie Aleksandra alles können. Ich fahre mit meiner Ola nach Hause und werde mit ihr arbeiten. Vor allem daran, dass sie weiter ihre Hände benutzt." Denn jetzt weiß sie endlich, dass sie für Aleksandra das Tor zur Welt bedeuten.
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