Fußball gucken in Berlin-Kreuzberg: Zusammen kurz "Vor Wien"

Ein Deutschtürke und ein Deutschdeutscher durchleiden in einer Kneipe gemeinsam und dann doch irgendwie getrennt das Halbfinale zwischen Deutschland und der Türkei

In Berlin-Kreuzberg übernahm nach dem Halbfinalfeld die Polizei die Innenverteidigung. Bild: dpa

17.45 Uhr: Einen besseren Ort, um dieses Spiel zu sehen, kann es in Berlin gar nicht geben: Mitten in Kreuzberg mit einem hübschen Biergarten und diesem wunderbaren, eigentlich der benachbarten Wiener Straße geschuldeten Namen: "Vor Wien". Kaan, der Kneipenbesitzer, hat schon nach dem Viertelfinale angekündigt: "Wenn wir gegen Deutschland gewinnen, bekommt der Laden einen neuen Namen: In Wien." Aber heute zählt kein Stammkundenbonus - um einen guten Sitzplatz zu ergattern, muss man früh da sein. Und wir sind früh da - erste Reihe! Die drei Stunden kriegen wir schon irgendwie rum, vielleicht bringt jemand ja einen Grill mit.

18.33: Stehe mit einem Kollegen vor dem "Vor Wien." Freunde aus Potsdam wollten eigentlich kommen. "Wir hängen uns deutsche Fahnen um und ziehen dann grölend durch Kreuzberg" haben sie angekündigt. Diese Melanies. Jetzt bleiben sie doch im Umland hocken, weil sie Angst vor einem osmanischen Blutrausch haben. Auch mein Mitbewohner guckt deshalb lieber zu Hause in Neukölln. Das ganze Gequatsche hat es fast geschafft, dass auch mein Herz zittert. Egal. Rein da.

20.41: Endlich. Die Spieler sind auf dem Platz, und die Türken haben tatsächlich elf Mann zusammengekratzt. Egal. Zur Not wechseln wir eben den Koch ein. Vor zwei Wochen hab ich hier für die Schweizer Türken Derdiyok und Yakin gejubelt. Aber heute ist es etwas anderes, heute bin ich natürlich für die Türkei.

20.43: Die Nationalhymnen laufen. Da ich neben der Anlage sitze, drehe ich auf Zunicken des Chefs den Ton ab. Sicher ist sicher. Bei aller Rivalität - mit irgendwelchen Idioten, die irgendwelche Hymnen mitsingen, will man keinen Biergarten teilen.

20.45: Anpfiff. Alle klatschen. Zur Hälfte unterstützen die Fans die Deutschen, zur Hälfte die Türken. 50 Prozent sind Frauen.

20.53: Altintop erobert den Ball von Lahm und - nein, Lehmann pariert.

20.57: Angst. Mein Magen ist auf Pfenniggröße zusammengeschrumpft und macht einer großen Leere Platz, die so kalt ist wie das Weltall. Das Gewurstel der Deutschen bestätigt meine schlimmsten Befürchtungen. Und meine Befürchtungen sind immer die schlimmsten, ich bin wahrscheinlich der deutscheste - soll heißen der pessimistischste - aller Fans. Selbst beim Portugal-Spiel fand ich, dass Ballack und sein Trupp nicht sonderlich gut waren: kilometerweit vom Gegner weg, behäbig, Zweikampf nur, wenn ein anderer Spieler einen Deutschen zufällig anrempelt. Und nun das hier: Fehlpässe von Klose, die Türken im deutschen Strafraum, selbst der unfehlbare Lahm patzt. Wir werden auf jeden Fall verlieren.

20.58: Kazim schießt - Latte! Die Türken sind klar besser, zum ersten Mal in diesem Turnier. Wenn das mal gut geht.

21.07: Goooooooooool! Gooool! Goooool! Ugur Boral schießt den Ball unter Lehmann ins Tor. Spätestens jetzt ist Ugur unser Liebling. Die kroatischen, italienischen und - na sicher - deutschen Türkei-Fans unter uns jubeln: "Hugo, Hugo!"

21.07: Aua! Ich bekomme einen Schlag auf den Kopf. Langsam drehe ich mich um, hinter uns tanzt eine türkische Fanreihe. Einer hat mir seinen Ellenbogen beim Springen aus Versehen auf den Kopf gerammt und entschuldigt sich. Und lacht. Ist auch egal, ich bin ohnehin betäubt. Ungläubig starren die deutschen Fans auf die Leinwand. Ich dagegen, ich habe es ja gewusst. Das Ende ist nahe. Ich bekomme Herzrasen.

21.12: Jemand muss diesen Schweinsteiger aufhalten!

21.12: Yuuuaaaahhhhhrrrrrr! Tor. Befreiungsschrei. Allerdings eine halbe Sekunde zu spät, weil ich gar nicht glauben kann, dass das eben wirklich passiert ist. Erst als mir ein Deutscher mit seiner Tröte direkt ins Ohr bläst, will ich aufspringen und jubeln. Aber die Strapazen des Spiels verlangen bereits ihren Tribut: Mir ist, als wären meine Knochen flüssig geworden. Ich erstarre in einer ziemlich bescheuert aussehenden Pose zwischen Knien und Springen und sinke nach einer Ewigkeit zurück auf den Stuhl.

21.30: Altintop, Semih und, klar, immer wieder unser Hugo. Aber es hat nichts genutzt. Halbzeitanalyse in der Warteschlange vor dem Klo: Hugo super, Kazim muss mehr zum Tor, bloß nicht die Deutschen flanken lassen, dann holen wir das Spiel. Der Kollege Schulz hält dagegen. Trotz des Ausgleichs steht ihm die Angst im Gesicht.

21.30 Uhr: Ich zittere noch immer, das Herzrasen wird schlimmer, weil die Deutschen absolute Grütze zusammenstochern. Ich versuche mir zu sagen: Wenn die Türken dieses Mal wie die Kroaten spielen, dann spielen wir eben wie die Türken. Eine kleine, irre Hoffnung keimt in mir. Treffe den Kollegen Yücel vor dem Klo und strahle Zuversicht aus. Er ist sichtlich beeindruckt.

21.55: Gnarf. Diese Trantüten. Das Spiel läuft weiter wie vorher. Jogi muss diese Schlafwagenbelegschaft mal richtig anbrüllen.

21.57: Schiri!!!! Du Blindpese!!! Daswareinganzklarerelfmeter!!!!

21.57: Der Schiedsrichter ist Schweizer. Und die haben immer recht. Hopp Schwyz!

22.01: Bildausfall. Ein Königreich für ein Radio! Aber niemand hat eins dabei. Immerhin, der Ton kommt bald zurück. Wir hören Bela Rethy: "Klose köpft knapp am Tor vorbei." Knapp? Das war meilenweit entfernt.

22.12: Der hässliche Deutsche ist zurück, jedenfalls auf dem Spielfeld. Dabei dachte ich schon, wir hätten diese Rolle an die Italiener abgegeben. Trotzdem sagt ein Türke hinter uns: Ich glaube, die Deutschen gewinnen. Mein Herz bummert weiter, gleichzeitig dämmere ich erschöpft vor mich hin. Hätte gar nicht gedacht, dass so etwas geht.

22.24: Klose. Tor. Springen, Brüllen. Lass es raus, Junge. Zum ersten Mal übertönen die Deutschen die Türken. Eine türkische Lady sagt trocken: Gleich machen wir Euch wieder einen rein.

22.24: Neeeeeeeeeeeiiiiiiiinnn! Wir haben doch immer gesagt: Bloß keine Flanken, hören die nicht auf uns?

22.29: Trainer Terim wechselt Hugo Boral aus! Dieser Idiot!

22.31: Neeeeeeeeeeeiiiiiiiinnn! Kann nicht irgendwer diese Abwehr erschießen? Irgendwer schreit und trampelt. Mein Blick ist eingetrübt.

22.31: Goooooooooooooool! Semih! Wie gegen Kroatien! Einer geht noch, einer geht noch rein, einer geht noch, einer geht noch rein, oléee, olé, olé, olé!

22.36: Toooooohooor!!!! Alles nach vorne werfen. Bitte keine Verlängerung. Ich sterbe sonst. Puls ist auf gefühlten 290.

22.37: Wenn der Kazim da nicht ausgerutscht wäre. Aber vielleicht … Beim letzten Mal hat es doch auch … Bitte!?!

22.40: Vorbei. Schlechter spielen und trotzdem gewinnen. Die Deutschen sind eben doch die besseren Deutschen.

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