Lieber Herr Ringel!
Ihre Erinnerungen an Sun Ra sind in der Tat recht amüsant - und erinnerten mich an einen der seltenen mystischen Momente in meinem Leben. Damit hatte natürlich auch Sun Ra zu tun. Es war vor etwa 20 Jahren, als Johnny Griffin für einen Auftritt in der Reihe Jazz in Essen angekündigt war und erst am Abend, bereits am Veranstaltungsort, verkündet wurde, dass Griffin kranheitsbedingt absagen musste und stattdessen das Sun Ra Arkestra spielen würde. Ganz gegen meine sonstige zurückhaltende Art erregte ich bereits die Aufmerksamkeit und das Unverständnis der rund 80 Besucher, von denen dann vielleicht nach der Programmänderung 50 blieben, da ich lauthals jubilierte, denn die Aussicht, statt Johnny Griffen Sun Ra zu erleben, kam mir einem Gottesgeschenk gleich.
Vor dem Konzert ging ich also freudig erregt zum Pinkeln - und traf in der Toilette den guten Sun Ra, der mich auf seinem Weg von der Kabine zum Waschbecken mit seinem langen Umhang streifte. Er grinste dabei so komisch und ich merkte gleich, dass irgend etwas passiert war mit mir.
Im großen Saal des Folkwang Museums kamen dann zuerst der Bassist und etwas später der Gitarrist auf die Bühne, beide offensichtlich ziemlich stoned, ob von gutem Cannabis oder einfach nur so, sei dahin gestellt. Der Bassist brummelte, auf seinem Stuhl mehr liegend als sitzend leise ein bißchen auf dem Fender Jazzbass, der Gitarrist zitierte dabei von Charly Christian über Grant Green und Wes Montgomery bis Jimi Hendrix mit der großen Halbakustischen die Geschichte der Jazzgitarre. Als die Beiden langsam Fahrt aufgenommen hatte, trödelten die anderen Musiker nach und nach auf die Bühne, spielten erste wilde Soli, bis der Meister selbst mit ein paar Akkorden auf dem großen Bechstein zu fast puristischem Bigband-Jazz überleitete. Ich saß in der ersten Reihe, konnte mein Glück kaum fassen, und dann kam er: Ein dürrer, seitengescheitelter, dreckigblonder und fusselbärtiger Fotograf mit obligatorischer Umhängetasche setzte sich neben mich und begann sofort ohne Unterlass zu klicken, zu schrauben, mich in die Seite zu stoßen, mir den Blick zu verstellen, kurz, mich furchtbar zu nerven. Nach einer Weile rammte ich, der ich sonst ein friedliebendes Lämmchen bin, ihm meinen Ellenbogen in die Seite und drohte dem Arsch Schläge an, wenn er nicht bald das Weite suchen würde. Er hingegen meinte, er würde ja nur seinen Beruf ausüben und ich sollte mal ganz vorsichtig sein. Während das Arkestra in der Zwischenzeit wirklich den Swing hatte und scheinbar unseren eskalierenden Streit mit dem passenden Soundtrack unterlegte, erregten wir oder ich zum zweiten Mal die Aufmerksamkeit des Publikums, denn mittlerweile waren wir direkt vor der Bühne in den Clinch gegangen. Mein "Ich hau Dir gleich was in die Fresse" egalisierte der Berufsfotograf mit "Dann zieh ich Dir die Canon über den Schädel"! Plötzlich sah ich im Augenwinkel wie Sun Ra mir, seinem Werkzeug, mit einem milden Lächeln signalierte: Lass gut sein Junge, das reicht. Dabei spürte ich die bösen Blicke der ganzen Oberstufenlehrer, Ruhrgas AG.-Vorstandsvorsitzenden und Bredeneyer Frühwitwen mit 20 Jahre jüngerer männlicher Beleitung in meinem Rücken.
Naja, der Fotograf hielt sich etwas zurück und verzog sich nach ein paar Minuten sogar auf die Seitentreppen des kleinen Saales und das Konzert endete nach furiosen fast drei Stunden mit einer klassischen Polonäse durch die Sitzreihen, angeführt von der wunderschönen Sängerin. Übriggeblieben waren da noch ungefähr 20 völlig verstörte Zuschauerinnen und Zuschauer. Den ganzen Restabend und die nächsten Tage nervte ich meine Frau damit, dass Sun Ra mich mit seinem Kaftan gestreift hatte und ich gar nicht anders reagieren konnte: Ich hatte vom Meister schließlich einen Auftrag bekommen. Ich glaube das heute noch!
Beste Grüße
Manfred Burazerovic
meistkommentiert
Wahl in den USA
Sie wussten, was sie tun
Obergrenze für Imbissbuden
Kein Döner ist illegal
SPD nach Ampel-Aus
Alles auf Olaf
Regierungskrise in Deutschland
Ampel kaputt!
Kritik an der taz
Wer ist mal links gestartet und heute bürgerlich?
CO₂-Fußabdruck von Superreichen
Immer mehr Privatjets unterwegs