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Kolumne KlatschStanislav und die feigen Steinewerfer

Ein Grundkurs in Geologie und eine Radtour haben mein Verhältnis zum Steinewerfen entscheidend geprägt.

privat

Philipp Maußhardt (49) ist Mitglied der Reportage-Agentur "Zeitenspiegel" und hat große Angst davor, seine Leser zu langweilen oder einzuschläfern. Darum klatscht er beim Schreiben oftmals laut in die Hände in der Hoffnung, dass sie es beim Lesen hören.

Wenn es einen friedlichen Menschen gibt, dann ist es Stanislav, der Tscheche. Die Natur hat ihn über zwei Meter hoch wachsen lassen, und mit seinen Pranken könnte er die meisten seiner Mitmenschen am Kragen packen, ein wenig in die Höhe halten und dann fallen lassen. Stattdessen hält er meist nur einen Fotoapparat in seinen Händen und geht leicht gebückt, damit er nicht so auffällt und niemand Angst vor ihm bekommt. Stanislav ist Fotograf und möchte nicht, dass man Angst vor ihm hat. Er hat ja auch keine vor den vielen kleinen Gemeinen um ihn herum.

Der tschechische Riese Stanislav mit dem großen Fotoapparat, der in seinen Händen aber dennoch aussieht wie eine Spielzeugkamera, fotografierte vor ein paar Wochen grölende Neonazis in Dresden. Auf einem Video auf YouTube kann man sehen, wie er furchtlos das Objektiv auf sie hält, bis die Meute ihn bemerkt. Dann sieht man, wie sie ihn umzingeln, auf ihn einschlagen und wie ihm ein Stein gegen den Kopf fliegt. Die Neonazis haben das Video voll Stolz ins Internet gestellt.

Den Steinewerfer sieht man nicht. Steinewerfer sieht man sowieso nur selten. Der Steinewerfer steht meist im Hintergrund, verdeckt von einer Masse, und wirft in den Vordergrund. Steinewerfer sind in aller Regel feige Menschen, die aus der Distanz und aus der Anonymität agieren. Ob auf friedliche Fotografen, nichts ahnende Autofahrer, Dienst habende Polizisten oder untreue iranische Frauen - Steinewerfer sind mir die Elendesten unter der Sonne.

Wer wie ich je einen Grundkurs in Geologie absolvierte, würde nie auf die Idee kommen, einen Stein zum Werfen zu benutzen. Selbst der gemeine Schilfsandstein, der, anders als der mit filigranen Quarzäderchen durchzogene Granit, kaum eine innere Struktur erkennen lässt, ist ein bewundernswertes Stück Natur. Er war einmal Meeresboden, an dessen Rändern Farne und Schachtelhalme wuchsen. Deshalb findet man in ihm noch Abdrucke von Pflanzen. Der gemeine Pflasterstein ist dagegen meist ein Gneis: Man darf ihn niemals werfen, man muss ihn aufklopfen mit Hammer und Meißel und sieht dann den Dunkelglimmer jungfräulich schimmern. Beim mit ihm verwandten Granit sprach Goethe sogar einmal von "der Würde dieses Gesteins." Ja, Würde.

Dieser Grundkurs in Geologie wirkte zusammen mit einer lange zurückliegenden Fahrradtour so charakterbildend, dass ich, selbst wenn ich wollte, niemals einen Stein aufheben und damit zielen könnte - und wäre es gar auf einen Polizisten: Der Arm würde mir kraftlos niedersinken. Ich war zehn Jahre alt, meine Mitfahrer elf und zwölf, als wir zu unserer ersten großen Radtour an den Bodensee aufbrachen. Auf unserer Landkarte waren kleine rote Dreiecke eingezeichnet, Symbole für den Standort von Jugendherbergen. Die Karte war schon etwas älter, das bemerkten wir in Bad Waldsee. Weit und breit keine Jugendherberge, und so klingelten wir am Abend auf dem Polizeirevier. Nachdem sich die Beamten telefonisch bei unseren Eltern versicherten, dass wir keine Ausreißer waren, boten sie uns Betten in der Ausnüchterungszelle des Polizeireviers an. Am darauf folgenden Morgen brachte ein Polizist jedem von uns ein Glas mit Kaba-Kakao und Laugenbrötchen zum Frühstück, dann winkte er uns zum Abschied hinterher.

Das Bild vom winkenden Polizisten hat sich eingeprägt wie der Farn in den Schilfsandstein. Ich vermute, die Steine werfenden Neonazis aus Dresden haben noch nie in ihrem Leben eine Radtour gemacht und auch keinen Grundkurs in Geologie. Wahrscheinlich haben sie ganz wenige sinnvolle Dinge in ihrem Leben gemacht. Sie tun mir deshalb fast ein bisschen leid.

David war der erste Steinewerfer der Geschichte. Er nahm einen Kieselstein aus einem Bach und tötete damit den Seefahrer Goliath, mit so einem schönen, runden, flachen, hellen Kieselstein, wie man ihn über die Wasseroberfläche hüpfen lässt. Die genaue geologische Zusammensetzung dieses Kieselsteins ist nicht bekannt. Dafür wurde David berühmt - und ist bis heute ein schlechtes Beispiel. Er hat das Steinewerfen legitimiert. Wer weiß, vielleicht war der Riese Goliath ja ein liebenswerter Mensch. So einer wie Stanislav.

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