Alltag in Sadr City: Die unheimliche Ruhe der Miliz

Die schiitischen Milizen in Bagdads berüchtigter Sadr City halten den Waffenstillstand zurzeit weitgehend ein. Die irakische Armee versucht, den Alltag der Bevölkerung zu sichern.

Ein Porträt des Führers der Mahdi-Armee Muktada as-Sadr in Sadr City, einem Stadtteil von Bagdad. Bild: ap

BAGDAD taz Sadr City, das schiitische Millionenviertel im Nordosten von Bagdad, ist kein Ort, an dem sich schnelles Geld machen lässt. Gut bezahlte Jobs sind rar. In den kleinen, vor Jahrzehnten erbauten Häusern wohnen oft mehrere Familien. Ali al-Shmusi, Vorsitzender des Stadtrats von Sadr City, eines gewählten Gremiums ohne weitreichende politische Befugnisse, schimpft: "Die Milizionäre haben sich an allem bereichert, womit sich Geld machen lässt." Mehrere Tage waren wir in Sadr City unterwegs, um den Vorwürfen gegen die Miliz von Muktada al-Sadr, einem radikalen Prediger und Sohn eines von Saddam Hussein ermordeten Geistlichen, nachzugehen.

"Jeden Monat mussten wir 400 bis 500 Dollar Schutzgelder an sie bezahlen", sagt ein anonym bleiben wollender Händler vom Dschamila-Markt. Der Großmarkt im Südwesten des Viertels ist der wichtigste Umschlagplatz für Lebensmittel in Bagdad. In den Lagerhallen stapeln sich Reis, Mehl, Gemüse, Obst und Haushaltswaren. Wie die Schutzgelderpressung funktioniert hat, erklärt der Teegroßhändler Hussam Faris: "Sie zwangen uns, für die Reinigung und ihre Wachen zu bezahlen." Für jeden Mann waren umgerechnet 20 Dollar fällig. Auch die Hausbesitzer im angrenzenden Dschamila mussten einen monatlichen Obulus für den sogenannten Schutz abdrücken. Vergleichsweise gepflegte Villen mit kleinen Vorgärten säumen die Straße, hier wohnt, wer den Aufstieg geschafft hat. "Als Gegenleistung verlegten sie Sprengsätze auf der Straße", schimpft ein Bewohner. "So sah ihr Schutz aus."

Außerdem kassierten die Milizionäre an den Tankstellen ab und zweigten sich von den Kerosinrationen einen Anteil ab, erzählt der Stadtratsvorsitzende. "Von jedem Auftrag, den die Regierung vergab, waren 25 Prozent fällig", sagt Shmusi. Mehrere hunderttausend Dollar seien so monatlich in die Kriegskasse der Milizionäre geflossen. Doch mit den Erpressungen ist zumindest im Moment weitgehend Schluss.

Nach langem Zögern ging Regierungschef Nuri al-Maliki, selbst ein Schiit, im Frühjahr gegen die Mahdi-Armee, die Milizen von Sadr, vor. In Basra kam es daraufhin zu heftigen Kämpfen, die sich über den gesamten Südirak und bis nach Sadr City ausbreiteten. Der Iran vermittelte schließlich im Mai 2008 einen Waffenstillstand.

Halb eingestürzte Häuser, ausgebrannte Autos und Fassaden, die wie Pockennarben von Einschusslöchern übersät sind, säumen die Zufahrtstraße nach Dschamila. Um das Viertel und den gleichnamigen Großmarkt haben die Amerikaner eine hohe Betonmauer gezogen, wie sie für Bagdad heute typisch ist. Der Teehändler Faris schätzt zwar die Sicherheit, die ihm und seinen Kollegen die Mauer gebracht hat. Aber sie behindere den Warenfluss, und er fühle sich wie in einem Gefängnis. Wie viele in Sadr City will er deshalb, dass die Mauer so bald wie möglich verschwindet. Es ist freilich unwahrscheinlich, dass sich dieser Wunsch bald erfüllt.

Seine Soldaten hätten Sadr City weitgehend unter Kontrolle, sagt Oberst Faris Khalil Ibrahim, Einsatzkommandant der 11. irakischen Armeedivision. Es gebe aber weiterhin Unruheherde, die seine Soldaten durch gezielte Razzien und Festnahmen austrocknen wollen. Das brauche einige Zeit, meint der Oberst. Die Soldaten haben in mehreren Vierteln Außenposten eingerichtet, in einigen sind auch amerikanische Soldaten stationiert. Auf den Straßen sehen wir in diesen Tagen jedoch selten Soldaten. Nur am Freitag ist alles anders. An den Hauptzufahrtstraßen sind Oberst Faris Soldaten mit Panzern und Humvees aufgefahren.

Je mehr wir uns dem Zentrum nähern, umso dichter werden die Kontrollen. In der Nähe der Moschee und der Sadr-Vertretung geht gar nichts mehr. Panzer, Humvees, Mannschaftswagen und Stracheldrahtrollen versperren die Straße. In den vergangenen Wochen demonstrierten die Anhänger von Muktada al-Sadr nach der Freitagspredigt gegen die Amerikaner, aber auch gegen die Regierung. Oberst Faris will Stärke zeigen, persönlich kommandiert er den Einsatz.

Wer zur Moschee und dem Sadr-Büro vorgelassen wird, entscheiden am Ende jedoch nicht seine Soldaten, sondern die Kämpfer von Sadrs Mahdi-Armee, die in ihren typischen hellgelben Hemden und mit einem Plastikausweis um den Hals die Passanten durchsuchen. Während junge Milizionäre die Umgebung inspizieren, notiert vor dem Büro ein Wächter die Namen und händigt gelbe Besucherausweise aus. Zwar tragen die Kämpfer im Gegensatz zu früher keine Waffen, aber sie sind offensichtlich gut organisiert. Ob die Armee wirklich die Oberhand hat, wie Hauptmann Faris sagt, ist eine offene Frage.

"Solange sie uns nicht am Freitagsgebet hindern, sind die Soldaten willkommen", behauptet Abu Mohanned. Der "Vater von Mohanned" ist Chef des Sadr-Büros und damit einer der einflussreichsten Männer von Sadr City, seinen vollständigen Namen will er uns aber nicht nennen. Aus gutem Grund, meint ein lokaler Journalist. Der Mann mit dem kurzen grauen Bart und der Brille mit der feinen Metallumrandung sei Kommandant der Mahdi-Armee und stehe ganz oben auf der Fahndungsliste.

Im Gespräch räumt Abu Mohanned unumwunden ein, dass Sadr-Kämpfer an Verbrechen beteiligt waren. Er schiebt das jedoch der Infiltration durch gegnerische Parteien zu, die als Handlanger des Iran aufträten. Gemeint ist damit der Islamic High Supreme Council of Iraq (ISCI) von Abdulaziz Hakim, dessen Fraktion einflussreiche Posten in der Regierung innehat. Ein Komplott der verfeindeten Hakim-Fraktion sieht er auch hinter dem Vorgehen gegen die Mahdi-Armee, die auf diese Weise ihren Griff nach der Macht im Irak festigen wolle.

Um weiteres Blutvergießen unter der Zivilbevölkerung zu vermeiden, habe Sadr den Kampf in den Städten verboten, erklärt Abu Mohanned. Außerhalb der Städte stünden jedoch Spezialgruppen bereit, die den Kampf für die Sache der Sadristen jederzeit fortsetzen können, und zwar nicht nur gegen die "Besatzer", wie er die Amerikaner nennt, sondern auch gegen die irakische Armee und Polizei. "Wir haben den Widerstand nicht aufgegeben." Im Moment halten sich die Kämpfer jedoch strikt an die Waffenruhe, die Sadr im Mai verkündet hat. Obwohl die Sadristen den sofortigen Abzug der Amerikaner fordern und das geplante Sicherheitsabkommen strikt ablehnen, verüben die Milizionäre derzeit kaum noch Anschläge auf die US-Soldaten. Laut Abu Mohanned stammen die Hinweise auf die Kriminellen unter den Milizionären aus den eigenen Reihen. Beobachter sehen darin das Bestreben Sadrs, in der eigenen Truppe Ordnung zu schaffen.

Im Stadtrat von Sadr City ist man froh über die Ruhepause. Die Stadtverordneten befragen an diesem Tag Vertreter verschiedener Ministerien. Sie wollen wissen, was aus den 100 Millionen Dollar geworden ist, die Maliki für den Wiederaufbau versprochen hat. "Nichts ist bisher bei uns angekommen", schimpft Suad Allami. Die 40-jährige Anwältin ist die einzige Frau, die von den ehemals vier weiblichen Abgeordneten noch ihrem Amt nachgeht. Eine Kollegin wurde ermordet, zwei gaben wegen Einschüchterung durch Milizionäre auf. Doch Allami nimmt kein Blatt vor den Mund. Barsch fällt sie einem Regierungsvertreter ins Wort, als dieser angebliche Fortschritte in ihrem Viertel preist. "Wenn wir keine Arbeitsplätze schaffen und die Dienstleistungen für die Bürger nicht verbessern, stärkt das die Milizionäre", sagt Allami. "Unsere Schwäche spielt ihnen direkt in die Hände."

In den letzten Jahren endeten mehrere Aufstände von Sadr mit einer Waffenruhe. Statt einer Konfrontation mit den Amerikanern oder Überfällen auf die Sunniten könnte Sadr die Zeit nutzen, um sich auf offene Konfrontation mit der verfeindeten Hakim-Fraktion vorzubereiten. "Besiegt ist die Miliz nicht", sagt Shmusi. "Sie warten nur auf eine neue Gelegenheit."

In einem ärmlichen Haus im Norden von Sadr City wartet Abu Hussein sehnlichst auf den Einsatzbefehl von Sadr. "Als die Mahdi-Armee die Straßen kontrollierten, herrschten hier Ruhe und Frieden", sagt der kräftige 30-Jährige. Die Armee führe sich wie ein wild gewordener Haufen auf, überfalle Häuser und verhafte willkürlich Leute. In seinem fensterlosen, nur spärlich möblierten Wohnzimmer hängen zwei große Plakate mit dem Konterfei von Sadr und dessen Vater über den Fotografien seiner verstorbenen Mutter und Brüder. Die Mutter und ein Bruder seien bei einem amerikanischen Luftangriff getötet worden, sagt der arbeitslose Schreiner. "Nur die Mahdi-Armee kann uns vor den Besatzern und der Regierung schützen. Hoffentlich kehrt sie bald zurück."

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