Abschiebepraxis in Berlin: "Gnadenrecht mit neuem Namen"
Vor 25 Jahren sprang Cemal Altun aus dem Fenster des Berliner Verwaltungsgerichts. Er hatte Angst vor der Auslieferung an die Türkei. Die Asylpolitik ist weiterhin wenig human, meint Traudl Vorbrodt
taz: Frau Vorbrodt, vor 25 Jahren sprang der kurdische Asylbewerber Cemal Altun während der Verhandlung über seinen Asylantrag aus dem Fenster des Berliner Verwaltungsgerichts. Ist so eine Verzweiflungstat auch heute noch möglich?
Zum 25. Todestag von Cemal Altun, dessen Name für all die namenlosen Flüchtlinge steht, die die Angst vor Abschiebung verzweifeln ließ, gibt es zwei Gedenkveranstaltungen. Am 30. August um 11 Uhr wird am Gedenkstein für Cemal Altun in der Hardenbergstraße (beim Amerika Haus) ein Kranz niedergelegt. Am 31. August findet um 19 Uhr in der Kirche zum Heiligen Kreuz am Halleschen Tor eine Veranstaltung zum Asylrecht statt.
Traudl Vorbrodt: Verzweiflung ist immer möglich, weil jeder entsetzt, traurig und hilflos ist, wenn sein Asylantrag abgelehnt wird und Abschiebung droht. Das gilt vor allem, wenn man Schlimmes im Zielland befürchtet. Im Abschiebeknast kommt es immer wieder zu Suizidversuchen. Es wird ja nur wenigen Bewerbern hier Asyl zuerkannt.
Also wurden keine Lehren aus dem Selbstmord gezogen, obwohl der Todessprung damals die politische Öffentlichkeit aufrüttelte?
Lehren wurden daraus gezogen, indem die Sicherheitsmaßnahmen verschärft wurden. Aber Lehren im Sinne von "Wir erkennen mehr Asylbewerber an" wurden nicht gezogen. Die offizielle Erklärung der damaligen Politik dazu lautete: Wir lassen uns nicht erpressen.
Haben Asylsuchende in Deutschland überhaupt eine echte Chance auf Anerkennung?
Man hat sehr geringe Chancen. Vor allem wegen der unseligen Drittlandregelung. Wer also durch ein anderes Land nach Deutschland eingereist ist, muss zwingend dort Asyl beantragen und nicht hier. In Polen werden ja viele nach der Genfer Konvention als Flüchtlinge anerkannt. Aber viele der dort Anerkannten, die ich kenne, wollen nicht in Polen bleiben.
Warum nicht?
Weil sie in Berlin Leute kennen. Weil die wirtschaftliche Perspektive für Flüchtlinge in Polen als nicht so gut gilt. Weil die Flüchtlingsszene nicht so aktiv und entsprechend die rechtliche Vertretung dort schlechter ist.
Was müsste in Deutschland verändert werden?
Die Drittlandregelung dürfte nicht so rigide angewandt werden. Und man sollte die Auslegung der Schutzgewährung nicht so eng an wirtschaftliche Gesichtspunkte binden.
Heißt das: Einreisewillige, die der deutschen Gesellschaft nutzen, können eher bleiben?
Wenn man die Flüchtlinge brauchen kann, dann sind ihre Chancen, bleiben zu dürfen, größer. Das ist meine Beobachtung.
Sie sind Mitglied der Berliner Härtefallkommission. Das ist der letzte Strohhalm für von Abschiebung Bedrohte. Was macht die Härtefallkommission genau?
Wir überprüfen die humanitären Gründe, die dafür sprechen, dass ein abgelehnter Asylbewerber bleiben soll, und empfehlen dem Innensenator dann, eine Aufenthaltsgenehmigung zu gewähren.
Ihre Empfehlungen sind nicht bindend.
Aber der Innensenator hält sich in knapp zwei Dritteln der Fälle doch daran.
Das ist ja nobel, dass man ein Gremium einrichtet, in dem Menschen aus Gesellschaft und Politik sitzen, die diskutieren, ob man sich aus humanitären Gründen über das Gesetz stellt. Aber warum wird das Gesetz nicht human ausgestaltet?
Die Härtefallkommission ist seit 2005 gesetzlich geregelt. Jedes Bundesland kann eine einrichten. Da hat man also ins Aufenthaltsgesetz eine Instanz mit eingeflochten, die den humanitären Aspekt begutachten darf. Aber es ist der einzige Artikel im Aufenthaltsgesetz, der nicht juristisch überprüft und eingeklagt werden kann. Die Härtefallkommission ist ein Gnadenrecht mit neuem Namen. Vor 25 Jahren gab es sie noch nicht. Ob sie Cemal Altun allerdings hätte retten können, weiß ich nicht.
Eigentlich soll die Härtefallkommission Ende 2009 abgeschafft werden. Im Gesetz wurde sie nur als temporäre Einrichtung eingeführt. Hat sich an den Plänen etwas geändert?
Es scheint, als wolle man sie auch darüber hinaus bestehen lassen, aber noch gibt es keine Entscheidung dazu.
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