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Debatte SPD am ScheidewegVolkspartei ohne Mitte

Stefan Reinecke
Kommentar von Stefan Reinecke

Beck soll weg - nur Müntefering und Steinmeier können die SPD retten, meinen viele. Doch das ist ein Irrtum. Ein Rechtsschwenk wird die Probleme der SPD nicht lösen.

V or neun Jahren regierten SPD-Ministerpräsidenten noch in Hamburg und Hessen, im Saarland und Schleswig Holstein, in Niedersachsen und NRW. Heute ist das Fundament der SPD in den westdeutschen Kernregionen ausgehöhlt. In Umfragen liegt die Partei bundesweit unter 30 Prozent und die Mitgliederzahl sinkt unaufhaltsam weiter.

taz

Stefan Reinecke, geboren 1959, lebt in Berlin und arbeitet als Autor im Parlamentsbüro der taz. Dort befasst er sich schwerpunktmäßig mit der SPD und der Linkspartei - und der gestörten Beziehung zwischen beiden.

Wie ein Brandbeschleuniger wirkt die Linkspartei auf die Malaise der SPD. Seit Lafontaine & Co auch im Westen in die Parlamente einziehen, hat es die SPD erstmals in der Bundesrepublik mit einer ernsthaften Konkurrenz zu tun, die gegen sie auf ihrem ureigenem Terrain antritt: der Vertretung der Interessen der kleinen Leute. Auf nichts war die Beck-SPD weniger vorbereitet als auf die Erfolge der Linkspartei in Bremen, Hessen und Niedersachsen. Keine Zusammenarbeit, hieß die eilig ausgegebene Devise. So galt bis vor kurzem die Doktrin, dass die SPD im Osten mit den Exkommunisten der PDS regieren durfte. Im Westen aber, wo sich die Linkspartei-Basis zum Gutteil aus von Schröder heimatvertriebenen SPD-Genossen rekrutiert, sollte jede Zusammenarbeit mit der Linkspartei Teufelswerk sein. Wer das einleuchtend fand, musste SPD-Politiker sein.

Die SPD-Rechte reagiert auf die Linkspartei bis heute reflexartig mit aggressivem Beleidigtsein und dem bitteren Ton verkannter Volkspädagogen. Und anstatt kühl zu prüfen, wie die SPD rasch zu einer Arbeitsteilung und Kooperation mit der Linkspartei kommt, schwört sie im Wochentakt, im Bund nie mit der Linkspartei zusammenzuarbeiten. Dabei muss genau dies Ziel jedes machtbewussten SPD-Strategen sein. Passieren wird es, früher oder später, sowieso.

Je kopfloser die SPD wirkt, umso mehr Ärzte beugen sich über das Krankenbett der Sozialdemokratie. Die meisten liberalen Medien raten, die Führung auszuwechseln. Beck muss weg, so das Mantra. Franz Müntefering und Frank-Walter Steinmeier werden als Heilsfiguren inszeniert, mit denen es wieder aufwärts gehen wird. Die Idee, dass man Beck, den Provinzler, der in Berlin fremdelt, einfach von der Bühne zerren sollte, finden derzeit auch viele Genossen verlockend. Braucht nicht jeder Neuanfang einen harten Schnitt? Hilft nicht nur noch eine Schocktherapie? Und ein entschlossenes Ja zur Agenda 2010?

Eher nein. Zum einen hat die SPD hat in letzten neun Jahren vier Parteichefs verschlissen. Diese Wechsel haben die Zerrissenheit der Partei nicht kuriert, keine Wahlniederlage verhindert und den Mitgliederexodus nicht gestoppt. Die SPD laboriert auch an keiner normalen Führungskrise, die bei Parteien eben mal vorkommt. Das Problem der SPD ist nicht Beck - es liegt viel tiefer.

Wie in einem endlosen Wiederholungszwang, so als müsse sie ein Trauma bewältigen, kämpft die Partei um die Agenda 2010. Der mächtige rechte Flügel um Peer Steinbrück hält, unterstützt von Franz Müntefering, den Sozialabbau unter Schröder für einen glänzenden Erfolg. Die SPD-Rechte sieht weniger Arbeitslose, weniger Staatsschulden, eine konkurrenzfähige Wirtschaft und ein zukunftsfähiges Rentensystem. In ihrer Sicht hat sich die SPD mit der Agenda von sozialkonservativem Traditionsgerümpel befreit und als Partei bildungsorientierter Aufsteiger in Stellung gebracht. Doch anstatt stolz zu sein, nörgelt die SPD-Basis missmutig an der Agenda herum.

Für die SPD-Linke ist die Agenda schlicht der Sündenfall. Die Schröder-Regierung ist, so ihre Lesart, neoliberalen Einflüsterungen erlegen und hat leichtfertig das Herzensanliegen der Partei - die soziale Gerechtigkeit - geopfert. Sie sieht sieben Millionen working poor, die in Minijobs arbeiten, und sie sieht einen Aufschwung, den die Mittelschicht nur aus der Zeitung kennt, ebenso wie eine massenhafte Altersarmut, die kaum noch zu verhindern ist.

Was der SPD dramatisch fehlt, ist eine verbindende, sinnstiftende Erzählung. Diese Erzählung ist für die politische Linke viel wichtiger als für die Konservativen, für die es oft reicht, bloß zu regieren. Für die Linke ist die identitätsstiftende Erzählung gewissermaßen der profane Rest marxistischer Geschichtsteleologie. Die SPD hat sich schon lange von der Idee der großen Sozialismus-Erzählung verabschiedet- auf das Bewusstsein, moralisch auf der richtigen Seite zu stehen, aber kann sie nicht verzichten.

Das Dilemma der SPD ist, dass sie sich nicht zur Agenda-Politik bekennen kann - verdammen kann sie sie aber auch nicht. Für Letzteres ist die SPD-Linke sowieso zu schwach. Doch selbst wenn sie die Macht dazu hätte, wäre eine Totalrevision der Agenda selbstzerstörerisch. Denn dieses Dementi würde auch all den Opfern, die die Partei Schröders Basta-Politik gebracht hat, den Sinn rauben. Und Sinn ist in der SPD eine sehr knappe Ressource.

In dieser ungemütlichen Lage hat sich die SPD unter Kurt Beck für das Naheliegende entschieden; Durchwurschteln. Sie hat die Agenda verteidigt und entschärft. Sie hat die törichte Bahnprivatisierung durchgewunken und das Arbeitslosengeld verlängert. Sie inszeniert sich als Aufsteigerpartei und will den Mindestlohn, um die Unterschicht vor den Verwüstungen des von ihr selbst deregulierten Arbeitsmarkt zu schützen.

Dieser mittlere Weg schließt nur wenige aus - und begeistert niemanden. Auch in der SPD nicht. Verschärft wird der Eindruck des Verzagten dadurch, dass der Partei eine starke, selbstbewusste Mitte fehlt. Die Zentristen, die in der SPD-Geschichte schon oft auseinanderstrebende Flügel wieder zur Räson brachten, sind seit dem Agenda-Streit geschwächt. Auch deshalb macht Beck eine so unglückliche Figur. Das Zentrum der Partei, das ihn stützen müsste, ist verwaist.

Das Dilemma der SPD fußt aber keineswegs allein auf ihrer Zerrissenheit. Die SPD ist die einzige Volkspartei der Republik. Dieser Befund mag verwundern. Doch laut einer Studie von 2007 ist nur die SPD in allen Milieus gleichmäßig verankert. Nur die SPD hat bei etablierten Leistungsträgern und absturzgefährdeten Arbeitnehmern, bei Aufsteigern und beim abgehängten Prekariat rund 30 Prozent Sympathisanten. Die SPD-Wähler bilden somit die soziale Struktur der Republik ab. Das könnte eine Stärke sein - doch in dem Moment, in dem die soziale Spaltung wächst, droht die Überdehnung. Die SPD muss, mehr als die CDU, Hartz-IV-Empfängern und urbanen IT-Experten etwas bieten, arrivierten Facharbeitern und Friseuren, Globalisierungsgewinnern und -verlierern. Auch deshalb wirkt sie unsicher.

Was nun? Beck ist kein versierter Stratege, kein überzeugender Redner, kein kluger Taktiker. Doch die Alternative zu seinem Kompromisskurs ist gefährlich. So mag ein von Müntefering und Steinmeier angeführter rechter Durchmarsch und ein verordnetes beherztes Ja zur Agenda 2010 für einen Moment als Lösung erscheinen. Doch dieser Schwenk würde die Linkspartei noch stärker, die Zerrissenheit der SPD noch tiefer machen. Riskanter, als an Beck festzuhalten, ist im Moment nur, ihn zu stürzen.

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Stefan Reinecke
Korrespondent Parlamentsbüro
Stefan Reinecke arbeitet im Parlamentsbüro der taz mit den Schwerpunkten SPD und Linkspartei.

9 Kommentare

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  • M
    MSchneider

    Die SPD ist über den Berg. Von nun an geht es bergab.

  • RK
    Rüdiger Kalupner

    Es gibt keine geschichtliche Rettungsoption für die SPD. Deutschland nähert sich dem Startszenario für den Exodus aus der alten Parteien-, Macht- und weltindustriellen Akzelerations-Ordnung, die ein absolutistisches Wachstumzwangregime vom Typ Kapitalstockmaximierung hervorgebracht hat. Der Übergang führt in die evolutionsprozess-logisch folgende Ordnung des Schöpferischen - mit der zu Ende gedachten, ökosozialen Umfinanzierung der sozialen und staatlichen Leistungen als Machthebel.

     

    An dem Tag, an dem das Wissen über dieses Übergangsprojekt bekannt wird, ist allen Beobachtern und Durchblickern klar, dass die alte Parteienstruktur sich auflösen wird - weil sie die Konfliktkampfparteien ohne Konflikte sind. Die geistige Avantegarde und Vertreter der KREATIVEN KLASSE, das sind alle, die fähig und bereit sind, Konflikte jenseits von Machtinteressen produktiv aufzulösen, wird ihren Vormachtanspruch gegenüber allen Konfliktkämpfer-Institutionen in allen Staaten und Parlamenten aus ihrem wirtschaftlichen Effizienzsteigerungs- und menschlichen Humanwachstumspotenzial ableiten und diese Logik wird sich in Führung und Mehrheiten für DIE KREATIVEN selbstläuferisch umsetzen. Das Evolutionsprojektwissen dazu ist im Internet bei den KREATIVEN nachlesbar.

     

    Die LINKE ist doch nur der naive Beschleuniger dieses Epochenwechsels in Deutschland. Sie labilisiert die deutsche Machtstruktur. Man lese nach, was Andre Brie und Dieter Klein dazu in der ZEIT gesagt hat. In Deutschland ist nur das Startszenario herangewachsen. Von hier aus werden alle anderen Demokratien erfasst werden.

  • IN
    Ihr Namecarl mumm von hopfensack

    sie sprechen mir aus der seele!

    mfg v.hopfensack (einer,der nicht von der agenda

    2010 betroffen ist und wohl nicht wieder die spd waehlen wird)

  • MB
    Marshall Bravestar

    Guten Tag,

    die Spd kann die positiven Aspekte von Hartz 4, wie Fordern und Fördern, Ganztagschulen, nutzen und dabei liberale Aspekte mit ernshafter sozialdemokratischer Politik kombinieren.

    Weder traditionalistische passive Sozialpolitik der guten alten nicht so nachhaltigen Deutschland AG, noch liberale Scheinlösungen, die man den Wirtschaftswissenschaften entliehen bekommen hat, machen die SPD wählbar. Anstatt um diese beiden Irrwege der Parteiflügel zu streiten und Konzepten der CDU und Medien wie "Führungsstärke" und "Gerechtigkeit" hinterherzulaufen, muss die SPD die Bildungausgaben erhöhen, z.B. auf 7 Prozent des BIP wie Finnland, die Geburtenrate von etwa 1,2 Kindern mindestens auf 1,8 bringen, die Sozialversicherungssysteme von der Umlagefinanzierung auf Steuerfinanzierung umstellen, um die demographische Fehlentwicklung abzufedern. Zudem gehören Milliardeninvestitionen in die Weiterbildung gegen die Arbeitslosigkeit und die massive Eingrenzung des Niedriglohnbereichs. Diese Ziele können nur über eine Erhöhung der Staatsquote erreicht werden, wie seit Jahrzehnten bekannt. Es gibt viele Ansatzpunkte gegenwärtiger SPD-Politik die einer Ausweitung in einem modernen Wohlfahrtssystem würdig sind. Umsetzbar ist eine nachhaltige Reform des deutschen Wohlfahrtsstaates aber nicht, da die SPD auf absehbare Zeit keine Regierung mehr stellen will (...).

    Stefan Reinecke beschreibt sehr treffend, dass der SPD die Mitte fehlt, die eine progressiv soziale Vision von Gesellschaft und Solidarität vertritt.

     

    Marshall Bravestar

  • SM
    Stan Marsh

    Mit der Agenda 2010 hat sich die SPD von der Solidarität verabschiedet und sich zu willigen Handlangern von Bonzen und Kapital gemacht.

     

    Ihre neoliberale Geisterfahrt beschert der SPD solide Wahlergebnisse unter dreißig Prozent.

     

    Die SPD sollte sich - ganz neoliberal! - auf ihren "brand value", ihren Markenwert besinnen.

     

    Solidarität und soziale Gerechtigkeit.

     

    Steinbrück und Steinmeier können ja zur CDU wechseln.

  • JB
    Joachim Bovier

    Ziemlich überflüssig für die rot angestrichene sozialistische Partei SPD einen Kanzlerkandidaten zu nominieren, wo Deutschland in Frau Merkel doch schon längst eine sozialistische Kanzlerin hat, auch wenn die von der anderen, der schwarz angestrichenen sozialistischen Partei CDU ist. Ob CDU oder SPD wählen wird also am 27. September 2009 ziemlich gleichgültig sein. Nur mit der FDP wird es wieder eine bürgerliche Politik geben, werden Steuersenkungen durchgesetzt und der Staat wieder auf ein vernünftiges Mass zurückgestutzt. Schließlich ist der allgegenwärtige, umsorgende Wohlfahrtsstaat notwendigerweise ein Staat, der dem Bürger zuvor alles nimmt, bevor er einen Teil davon nach Gutdünken wieder verteilt. Mehr oder weniger Staat, Freiheit oder Sozialismus, wird die Frage bei der Bundestagswahl sein. Die sozialistischen Parteien CDU und SPD vertreten eine Politik des allumfassenden Sozialstaats. Entschieden wird die Bundestagswahl demnach zwischen der kommunistischen Linkspartei und der liberalen FDP. Niemals zuvor ging es so sehr um eine Grundsatzentscheidung zwischen Freiheit oder Sozialismus

  • WH
    Wolfgang Hörner

    Herr Reinecke hat recht. Die Journalisten, die gegen Beck schreiben und für Steinmeier, sind Anhänger des Neoliberalismus. Wieso ist Steinmeier wie auch Steinbrück beispielsweise Minister geworden? Genau, weil Schröder bei den Koalitionsverhandlungen dabei war, denn die SPD verlor ja bekanntlich nur knapp. Und die machen eben seine Politik weiter. Von der Logik her wollen sie ja auch nur Minister bleiben, egal wer regiert. Falls Beck kandidieren würde, sähe es ein bißchen anders aus. Denn die Agenda, für die Steinmeier und Steinbrück stehen, haben die SPD zerstört.

  • BG
    Bernd Goldammer

    Innenpolitisch eine ausgezeichnete Analyse. Allerdings bleibt die Frage der außenpolitischen Aufstellung der SPD fast unbearbeitet. Außenminister Steinmeier wirkt dort im Moment ziemlich hilflos. Er hat die amerikanische Vormachtstellung, die von Angela Merkel weit in die europäische Politik hineingedrängt worden ist, zugelassen. Die Probleme, die wir jetzt damit bekommen fangen erst an. Ich habe mich sehr gewundert, dass Müntefering nur irgendwo in einem bayrischen Kaff die Bühne betreten, und seine üblichen Geschichten erzählen muss damit alle Medienlichter der "ungewählten, wohl aber gut veröffentlichen Meinung" angehen. Der Gleichschaltungsgestank ist schon penetrant. Der Beifall rauscht, als ob der Sauerländer den Schlüssel zur Krisenbewältigung in der Hand hielte. Dabei weiß Jeder: Er wird jede Lösung verhindern, deshalb der Jubel seiner Zielgruppe. Denn genau so wird die SPD gebraucht. Dafür zahlt man schließlich viele Redakteure? "Veröffentliche Meinung" und die "Meinung der Öffentlichkeit" haben immer weniger mit einander zu tun. Das schleichende Ohnmachtsgefühl weiter Bevölkerungskreise hofft man offensichtlich mit einem starken Überwachungsstaat zu erhalten. CDU/ CSU /FDP Kreise arbeiten zusammen mit den Medien schon längst daran, dem Volk diese Vision zu verklickern. Münteferings SPD übt an der politischen Ballettstange den dazu passenden öffentlichen Einknicker. Falls sie künftig überhaupt noch gebraucht wird. Bewundernswert, diese Show nennt man hierzulande immer noch Demokratie. Übrigens, die Kriegsberichtserstattung im Zusammenhang mit Südossetien ließ mich auch an der deutschen Pressefreiheit zweifeln. Kein Wunder, wenn amerikanische und deutsche Demokraten und Menschenrechtler auf ihren Stellplätzen in Peking und Moskau wie verstaubte Souvenirs aus einer vergessenen Zeit wirken. Wenn ich mir anschaue wie schleichend das alles geht, bekomme ich Angst um Alles, was in Europa nach 1945 auf zivilisatorischem Gebiet erreicht wurde

  • KH
    Karl Heinz

    Ich denke, dass der fähigste Mann mit dem stärksten Durchsetzungsvermögen nur Per Steinbrück

    ist. Alle anderen bezeichne ich ganz einfach als Weicheier, soll heissen, sie lassen sich schwindelig quasseln von ihren Mitstrategen.

    Nur eine starke Persönlichkeit wie P.Steinbrück mit realen Vorstellungen und Perspektiven muss die SPD führen.Steinmeier redet wie auch alle andern

    zuviel um den Brei herum : Er wird dem Druck seiner Kollegen nicht lange standhalten.

    Er sollte besser verzichten.