die wahrheit: Dr. Votz-Martin ist nicht allein
Für ganz gemeine Fieslinge und komplette Vollidioten bevorzugt Sven Regener in seiner Lehmann-Trilogie den Vornamen Martin. Höchste Zeit für eine Analyse
Wer Sven Regeners neues Buch "Der kleine Bruder" so etwa bis Seite 117 liest, lernt zwei Figuren kennen, die Martin heißen. Dr. Votz-Martin und Punk-Martin. In dem Roman davor, "Neue Vahr Süd", hatte Regener einen charakterlosen Fiesling erschaffen, der Martin Klapp heißt.
Dr. Votz-Martin ist der im Vollrausch ins Koma gefallene Bassist der Band Dr. Votz, Punk-Martin ein wichtigtuerischer Vollidiot, und Martin Klapp ("Gib mal Geld!") ist einfach nur ein geiziges, Profit maximierendes, selbstgefälliges Arschloch, das die Loyalität des Romanhelden Frank Lehmann andauernd ausnutzt.
Das ist alles unglaublich schwierig für Leute, die im wirklichen Leben Martin mit Vornamen heißen.
Das liegt nicht an Dr. Votz-Martin allein. Im literarischen und sonstigen musischen Leben ist Martin der ideale Vorname für Figuren, die entweder irgendwie nicht ganz richtig im Kopf sind, sich manchmal ein bisschen ungeschickt anstellen oder einfach nur Pech haben. Wie zum Beispiel jener Martin in "Verhängnis", einem Film von Louis Malle, in dem Juliette Binoche und Jeremy Irons miteinander rumvögeln.
Martin ist der Sohn von Irons, Binoche die Verlobte von Martin. Martin erwischt die beiden beim Vögeln und stürzt dann im Schock rücklings über das Treppengeländer, fünf Etagen hinunter. Ende.
Anfang der Neunzigerjahre erfand der Schauspieler Diether Krebs die Figur "Martin", eine Parodie auf den inzwischen selten gewordenen Müsli-Gutmenschen im Strickpullover, der alles erst mal ausdiskutieren möchte. Mit dem Lied "Ich bin der Martin, ne (Martin my love)" kam Martin in die Hitparade. Fast bis ganz nach oben. Möglicherweise ein Grund, warum es heute keine echten Weichei-Männer mehr gibt, zumindest optisch und habituell nicht. Was ja dann auch wieder ein Fortschritt ist, Martin sei Dank. Aber "Ichb in der Martin" war auch ein Schlag gegen manche anderen Martins. Wer damals Martin hieß und zufällig als Redakteur bei einer Musikzeitschrift arbeitete, egal bei welcher, zum Beispiel bei Metal Hammer, wurde von der Presseabteilung der zuständigen Plattenfirma RCA nicht nur ungefragt mit der Martin-CD bemustert, sondern auch noch mit einem Früchtemüsli von Dr. Oetker. Bei Metal Hammer fanden das alle lustig. Außer Martin.
Die Suche nach Ursachen für die in den Künsten allgemein und wie selbstverständlich ausgeübte Martin-Verachtung erfordert eine sorgfältige Rekonstruktion der Ereignisse, die mit dem Original zu tun haben, also dem heiligen Martin, dem Bischof von Tours.
So ein Mann wäre der Öffentlichkeit heute nur sehr schwer vermittelbar.
Ein Ritter, der mitten im Winter seinen Mantel mit einem frierenden Schnorrer teilt. Das mag in der Weltsicht von Fünfjährigen, die im November Lieder über den Sankt Martin singen müssen und dabei selbst gebastelte Laternen vor sich her tragen, ja noch in Ordnung gehen und vielleicht sogar was hermachen. Was dann aber wirklich nervt, ist diese ostentative Karriere-Ungeilheit von Martin.
Die Kirche will ihn zum Bischof machen. Er will nicht und versteckt sich. Sie suchen und finden ihn in einem Stall voller Gänse. Mit ihrem Geschnatter hatten die Tiere Martins Versteck verraten.
Das war nicht nur blöd für Martin, der dann doch noch als Bischof ranmusste. Der Tag, an dem sich Martin mit Gänsen hatte erwischen lassen, sollte sich in der Gänsegeschichte als ein folgenreiches Datum erweisen.
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