Jugend und Familie: Vater Staat verweigert den Unterhalt

Zwei Jugendliche haben sich mit ihren Eltern zerstritten - und mit dem Staat. Denn der verweigerte ihnen die Unterkunft in einer betreuten Wohngemeinschaft. Nur mit Hilfe von Anwälten kamen sie zu ihrem Recht.

Nina sticht zu. Dreimal, in seinen Rücken. Er fällt in sich zusammen und sinkt auf den schwarzen Holzboden. Nina Weitz* zieht das Messer zurück. Es ist aus Pappe. Sie spielt seit Jahren Theater. Auf der Bühne aus sich herausgehen, auch mal herumschreien können, das täte ihr gut, sagt die 18-Jährige und lacht.

Ihre Mutter war noch nicht da. Vermutlich wird sie das Stück auch nie sehen. Es gibt seit zwei Jahren keinen Kontakt mehr zwischen den beiden. Damals hielt Nina es nicht länger aus zu Hause und zog in eine betreute Wohngruppe in Berlin. Sie hat gekämpft dafür, gegen ihre Mutter, vor Gericht.

Über die Stadt verteilt gibt es mehrere Kriseneinrichtungen, die für den Notfall Schlafplätze bieten, rund um die Uhr von Sozialarbeitern betreut. Für viele der gut 1.000 Berliner Mädchen und Jungen, die in der Obhut der Jugendämter leben, sind die Krisendienste die ersten Anlaufstellen.

Die Betroffenen sind meist zwischen 14 und 18 Jahre alt. Einige kommen von sich aus, andere werden von der Polizei gebracht, manche leben auf der Straße, manchmal haben sie geklaut und wurden dabei erwischt. Die meisten der Kinder, die vor den Eltern fliehen, lebten bereits ohne Vater, was den Druck auf die Mutter nur erhöht.

Die Jugendämter selbst handeln jedoch nur noch im Notfall, ansonsten vermitteln und bewilligen sie die Maßnahmen. Ihnen fehlen Geld und Personal, seit der Senat die Mittel um 40 Prozent gekürzt hat. Deswegen sinkt auch die Chance für die Jugendlichen, einen Platz im betreuten Wohnen zu bekommen.

Die Wohngemeinschaften werden von über 50 Anbietern in Berlin betrieben. Sie gehören zu dem Kreis hunderter, meist gemeinnütziger Vereine oder GmbHs, die heute in der Hauptstadt den Großteil der Sozialarbeit erledigen. Einige davon existieren schon seit den 80er-Jahren. Sie haben sich spezialisiert, bieten zum Beispiel betreute Tagesgruppen für Schüler an, rund um die Uhr betreutes Wohnen für Jugendliche, die Drogen nehmen, oder Programme, bei denen sie à la Super-Nanny in die Wohnungen gehen und Familienberatung machen.

Doch die Branche steht unter Druck. Gleich nach den Kürzungen im Jahr 2002 haben die Ämter weniger Jugendliche geschickt, WGs mussten aufgegeben und auch Leute entlassen werden. Ohnehin zahlt die Stadt weniger für einen Platz im betreuten Wohnen. So sind auch die kleinen Unternehmen auf dem Jugendhilfemarkt gezwungen, möglichst sparsam und effektiv zu arbeiten.

Um ihre Abhängigkeit von der Politik in den Stadtbezirken abzubauen, haben einige freie Träger ihre Geschäftsfelder auf mehrere Bezirke ausgedehnt. So, hoffen sie, kann die Existenz des Unternehmens halbwegs gewahrt bleiben, wenn nach einem Machtwechsel in der Bezirkspolitik andere Schwerpunkte gesetzt werden.

Zumindest die Leiter der 16 Berliner Jugendämter sind sich jedoch sehr einig. Bereits im Mai hatten sie einen Brandbrief an den Senat geschickt und mehr Personalstellen gefordert, weil sie sonst ihre Aufgabe nicht mehr wahrnehmen könnten. Nun sollen 90 Sozialarbeiter eingestellt werden - zum ersten Mal seit 13 Jahren.

Es gibt eine kurze und eine lange Version der Geschichte. Die lange füllt knapp hundert Seiten. Gerichtsakten. Briefe. Die kurze geht so: Die junge Mutter hat das alleinige Sorgerecht, studiert und schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch. Den Vater sieht Nina selten. Oft ziehen sie um. Als die Mutter mit dem kleinen Bruder monatelang ins Ausland geht, wird die Wohnung aufgelöst, Nina bleibt in Berlin und findet ihr neues Zuhause auf der Wohnzimmercouch einer Tante. Ein Rucksack voller Schulsachen, ein Koffer mit Klamotten.

"Keiner hat sich damals für mich interessiert", erzählt Nina. Als die Mutter zurückkommt, finden sie nicht mehr zueinander, schreien sich an. Nina darf nicht zu ihrem Freund, bekommt kein Taschengeld. Einmal fliegt ihr ein Backblech entgegen, irgendwann schlägt die Mutter mit den Fäusten auf die damals 16-Jährige ein. Da geht Nina zum Krisendienst.

Der bringt Nina in einer Notunterkunft unter, in einem alten weißen Haus mit zehn Plätzen in Mehrbettzimmern. Einmal hält ihr dort ein Junge eine Knarre vor die Nase. Den Sozialarbeitern sagt sie nichts. Alle haben schon genug Probleme, vor allem mit den Eltern. Das verbindet.

Meist dauert ein Aufenthalt in der Notobhut vier Wochen, so lange, wie Jugendamt, Eltern und Betreuer vom Krisendienst mit dem betroffenen Jugendlichen beraten, wie es weitergehen soll. Nina bleibt fünf Monate, ihr Fall ist komplizierter. Fast wöchentlich sitzt sie in dieser Zeit im Jugendamt. Zu den Sozialarbeitern dort ist die Mutter immer freundlich. Nina besucht ein Gymnasium für Sprachbegabte. Sehr gute Noten und auf solch einer Schule! Was das Kind wolle, fragt man sich im Amt. Sogar der Amtsleiter sitzt später mit am Tisch. Sie solle sich nicht so anstellen, sagt er. Sie sei ein bockiges pubertierendes Mädel und dürfe anderen nicht den Platz wegnehmen. Sie könne ja klagen gegen die Entscheidung. Die Entlassung aus der Notunterkunft wird angeordnet, sie soll zurück zur Mutter.

Bleiben kann sie doch, weil sie sagt, dass sie sich umbringen wolle. Wer das sagt, darf nicht weggeschickt werden. Über ihren Freund kommt sie an einen Anwalt, der sie kostenlos vertritt. Er erreicht, dass das Jugendamt den Fall erneut aufnimmt. "Das Verhältnis zur Mutter ist zerrüttet", wird letztlich in die Akten geschrieben, die Mutter verliert das Sorgerecht. Nina darf nun endlich in eine betreute Wohngemeinschaft.

Wenn sie heute die langen, kargen Flure des Jugendamts entlanggeht und dem Amtsleiter begegnet, dann grüße er immer "grausam freundlich", findet sie. Vor jeder Tür stehen drei Stühle, für Eltern, Kind und Betreuer. Regelmäßig müssen alle erscheinen, um einen Hilfeplan zu vereinbaren. "Ich werde meinen Schulabschluss machen", steht darin, oder: "Ich verpflichte mich, an Gruppenaktivitäten teilzunehmen." Bei groben Verstößen drohen Konsequenzen, bis hin zum Rauswurf aus der Wohngemeinschaft. Aber das passiert selten. Am Ende eines Hilfeplans steht immer ein Ziel. Bei einigen steht "Rückführung in die Familie", bei vielen in Ninas Alter steht "Verselbständigung". Auch bei ihr steht das.

Als Nina in ihre Wohngemeinschaft einzieht, fünfter Stock im Vorderhaus eines Altbaus am östlichen Stadtrand, zieht Christine Wagner* gerade aus. Nach zwei Jahren darf sie jetzt betreut allein im Hinterhaus wohnen. Für viele ist das der nächste Schritt nach einer betreuten WG. Teilnehmen an den vom Jugendamt vorgeschriebenen "Gruppenaktivitäten" ihrer alten Wohngemeinschaft muss Christine aber noch. Jeden Mittwochabend treffen sich alle Bewohner im WG-Wohnzimmer zum Gruppenabend. Auf der vergilbten Eckcouch neben dem Fenster sitzen trotzdem nur Nina, Christine und Mitbewohnerin Katharina. Sie spielen mit dem Sozialarbeiter "Tabu". Seine Kollegin steht in der Küche und kocht Chili con Carne.

Bei den Sozialarbeitern in der Wohngruppe stehen Nina und Christine hoch im Kurs. Das Amt schickt nur noch selten Abiturienten. Vielleicht, weil man ihnen zutraut, sie könnten ihr Leben ohne Hilfe meistern.

Die beiden Jungs, die auch in der WG wohnen, kennen die Mädchen kaum. Der eine deckt den Esstisch, dann verschwindet er wieder in seinem Zimmer und spielt Gitarre. Erst als das Essen fertig ist, kommt er zurück. Ein Platz bleibt ganz leer. Nächsten Mittwoch wollen sie Möbel zusammenbauen. Die schwarze klobige Anbauwand aus den 90ern fliegt dann raus, Billy-Regale sollen rein. Das Geld dafür stammt aus einer Spendenaktion.

Auf Spenden sind auch die engagierten Sozialarbeiter angewiesen, die vor sechs Jahren den "Berliner Rechtshilfefonds Jugendhilfe" gründeten. Der gemeinnützige Verein ist bis heute einzigartig in der Bundesrepublik. Er setzt sich dafür ein, dass in Berlins Jugendhilfe trotz aller Einsparungen die Gesetze eingehalten werden. Die Vereinsräume: ein kleines Ladenlokal in Kreuzberg; draußen, oberhalb der Straße, rattert die U-Bahn auf ihrer Trasse vorbei. Das Schild neben dem Schaufenster ist vor lauter Graffiti nicht mehr zu lesen. Ohne eine Spende der Aktion Mensch wären nicht einmal die zwei Sozialpädagoginnen bezahlbar, die hier montags bis mittwochs vier Stunden mit Ratsuchenden telefonieren. In fast 400 Fällen wurden sie bereits aktiv.

Vermehrt müssen 16-Jährige, 18-Jährige dem Jugendamt mit Klage drohen, um ihre Ansprüche durchzusetzen. Sogar Mitarbeiter der Jugendämter weisen den Verein manchmal auf Verstöße in den eigenen Einrichtungen hin. Gegen einen Amtsleiter hat der Rechtshilfefonds gerade eine Dienstaufsichtsbeschwerde eingereicht: Er habe angeordnet, dass einige Jugendhilfeleistungen nicht mehr gewährt werden dürfen, obwohl sie im Gesetz stehen.

Insgesamt 16 Klagen hat der Fonds schon unterstützt, und die meisten davon wurden auch gewonnen. Zuletzt konnten die Streiter für eine gerechte Jugendhilfe durchboxen, dass der Senat die "Hilfe zum Lebensunterhalt" für Jugendliche, die ohne Eltern leben, auf Hartz-IV-Niveau anheben musste. Gebracht hat das aber nicht viel, denn längst wurde an anderer Stelle gekürzt.

Letzte Station: ein Problembezirk im Westteil der Stadt. Sarah Voigt* ist vor 14 Tagen in ihre Wohngemeinschaft eingezogen. Schön pink hatte die Vormieterin die Wände, da war Sarahs erste Aktion klar. Die Farbeimer stehen noch in der Ecke unterm Fenster. Jetzt ist alles weiß, über dem Bett weinrot. Lichtdurchflutet, fünfter Stock - sie ist zufrieden. "Seitdem ich hier bin, lache ich wieder, sagen meine Freunde", meint sie.

Ihr Freund Felix liegt neben ihr auf dem Bett und grinst. Seine rote Jacke hängt über dem Pfosten. "Rettungsschwimmer" steht in weißen Leuchtbuchstaben auf dem Rücken. Sarah ist auch seit Jahren dabei, fast jedes Wochenende in der Saison ist sie an einem der Berliner Seen unterwegs. Leben retten mussten beide noch nicht. Aber sie haben sich dort kennen gelernt.

Als ihre Mutter Sarah rausschmeißt, ihr die gepackten Sachen einfach vor die Tür stellt, sagen ihr die Sozialarbeiter vom Jugendamt, sie solle in sechs Wochen noch einmal anrufen, im Moment könne man nichts tun für sie. Erst als Felix Eltern, beide Staatsanwälte, den Angestellten des Jugendamts die Paragrafen um die Ohren hauen und mit Klage drohen, bekommt Sarah einen Platz in der Notobhut - gleich am nächsten Tag.

Dann hat es noch eine Weile gedauert, bis die WG gefunden war, in der Sarah heute wohnt. Nun kann sie in Ruhe die Realschule beenden, sagt sie und blickt zu ihrem Freund. Er strahlt zurück.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.