Chinesischen Jurist ausgezeichnet: Das Gewissen der Anwälte

Zhang Sizhi hat den schwierigen Weg Chinas in Richtung Demokratie und Freiheit vorangetrieben - und selbst durchlitten. Der Anwalt verteidigte Dissidenten sowie die Mao-Witwe.

Leidet mit an einer "Regierung, der der Mut für Reformen fehlt": Rechtsantwalt Zhang. Bild: heinrich-böll-stiftung

1927: Zhang Sizhi wird am 12. November in der zentralchinesischen Provinz Henan geboren. Er besucht eine Missionarsschule. Als ein jüngerer Mitschüler wegen unerlaubten nächtlichen Studierens der Schule verwiesen wird, organisiert Zhang einen Unterrichtsstreik. Der Mitschüler darf bleiben.

1957: Nach nur einem Jahr Anwaltstätigkeit wird Zhang während der Kulturrevolution zu 15 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Anschließend arbeitet er als Lehrer und kehrt erst 1979 wieder in seinen Anwaltsberuf zurück, als er den Auftrag erhält, die "Viererbande" zu verteidigen.

2008: Zhang Sizhi erhält am 2. Dezember den Petra-Kelly-Preis der Heinrich-Böll-Stiftung "für sein herausragendes Engagement für die Einhaltung der Menschenrechte und den Aufbau eines Rechtsstaates und Anwaltswesens in China". Die Heinrich-Böll-Stiftung verleiht den mit 10.000 Euro dotierten Preis seit 1998 alle zwei Jahre an Personen oder Gruppen, die sich in herausragender Weise für die Achtung der universellen Menschenrechte, für gewaltfreie Konfliktlösung oder den Schutz der natürlichen Umwelt einsetzen.

Für Rechtsanwalt Zhang Sizhi sind Wörter die besten Waffen. Wenn er das Wort ergreift, spannt sich sein Körper, die Augen funkeln. Seine Sprache ist klar, scharf, aber nie verletzend. Kein Satz ist Schmuck, jede Antwort treffend. Zhang redet hoch konzentriert, stundenlang und ohne große Gesten. Der charismatische Mann mit dem vollen weißen Haar braucht sie nicht. Sein Beruf ist seine Berufung. "Als Rechtsanwalt bin ich von Natur aus Menschenrechtler", sagt er.

Geschmackvoll-funktional ist sein Wohnbüro im achten Stock eines Hochhauses im Südosten Pekings eingerichtet. Im Wohnzimmer stehen helle, dezente Möbel, im Arbeitszimmer Regale voller Bücher. Bände mit klassischen Gedichten reihen sich an Romane und Fachbücher. Zhang trennt Beruf und Privatleben. Das Wohnbüro hat ihm ein Freund überlassen. Er ist oft nur zu Besuch zu Hause, bei seiner Frau. Er erzählt ihr nichts von seiner Arbeit. Zhang will seine Familie schützen. Denn sein Ringen mit der Kommunistischen Partei um die alleinige Herrschaft des Rechts hat einen Preis: Zhang steht unter ständiger Beobachtung.

Der Rechtsanwalt hat seit Anfang der 1980er-Jahre all die politisch schwergewichtigen, vom chinesischen Staat als "Verräter" oder "Umstürzler" angeklagten Aktivisten für Freiheit und Demokratie verteidigt: den Soziologen Wang Juntao, der 1989 die Studenten auf dem Tiananmenplatz beriet; Wei Jingsheng, der Ende der 1970er-Jahre seine politische Forderungen mit Wandzeitungen verbreitete; oder Bao Tong, den Sekretär des politisch liberalen Exparteichefs Zhao Ziyang. Für keinen hat Zhang Gerechtigkeit erringen können. Alle wurden unschuldig verurteilt. Seine Plädoyers enthüllten die lücken- und fehlerhaften Anklageschriften des Staates.

Die Regierung hat ihn, den viele chinesische Juristen als das "Gewissen der Anwälte" bezeichnen, nie für sein juristisches Wirken eingesperrt. Er hat keine Auszeichnung für seine Arbeit erhalten. Aber während der offiziellen Feier zu seinem 50. Dienstjubiläum 2006 würdigten ihn Vertreter der chinesischen Staatsanwaltschaft und des Volksgerichts als großen Anwalt. Zhang Sizhi steht für die tragische und oft widersprüchliche Entwicklung des chinesischen Rechtssystems. Er hat wie kein anderer den bis heute schwierigen Weg Chinas in Richtung Freiheit und Demokratie begleitet. Er hat ihn mit durchlitten.

Mit einem humanistischen Geist und dem Streben nach Freiheit ist Zhang, geboren am 12. November 1927 in der zentralchinesischen Provinz Henan, aufgewachsen. Er erlebte die Wirren des Krieges gegen Japan. Sein Vater, ein engagierter Arzt, nährte sein Interesse an Politik. In den 1940er-Jahren studierte er Jura in Peking, trat der Kommunistischen Partei - damals noch im Untergrund - bei und erlebte die Gründung der Volksrepublik China. Er durfte jedoch nur ein Jahr als Rechtsanwalt für sie arbeiten. Dem zunehmenden Dogmatismus der Führung wollte Zhang nicht folgen. 1957 wurde er zu 15 Jahren Zwangsarbeit in einem Lager auf dem Land verurteilt. "Zwei Dinge habe ich dort für mein Leben gelernt", sagt Zhang, "meine Menschlichkeit zu prüfen und Bitterkeit zu ertragen." Nach der Entlassung aus dem Lager arbeitete Zhang als Lehrer und glaubte, eine neue Berufung gefunden zu haben.

Doch das nach dem Chaos der Kulturrevolution sich langsam wieder erholende Justizministerium brauchte Anwälte für den öffentlichen Prozess gegen die "Viererbande" um Mao Zedongs Frau Jiang Qing. Die Justizbehörde der Partei erinnerte sich an Zhang und trug ihm die Leitung der Verteidigung für die "Viererbande" auf. Zhang wollte nicht. Doch schließlich musste er sich - als rehabilitiertes Parteimitglied - der Gruppe fügen. Zhangs Berufsethos gewann die Oberhand. Er nahm die Aufgabe, den Mitgliedern der "Viererbande" durch eine faire Verteidigung ein gerechtes Urteil zukommen zu lassen, sehr ernst.

Als "kleinen Schritt" von einer rechtlosen Gesellschaft zu einer Rechtsgesellschaft bezeichnet er den Prozess rückblickend. Doch damals wie heute klagt Zhang die Partei für ihre politische Instrumentalisierung des Rechts an. Auch mit sich selbst geht er hart ins Gericht. Die Sätze "Ich war nicht gut genug", "Ich habe nicht genug getan" wiederholt Zhang immer wieder. Nach jedem Fall gehe er in Selbstrevision, erzählt der Anwalt. "Man darf die eigenen Schwächen nicht auf das politische System schieben."

Seine Härte gegen sich selbst macht auch seine Kritik an der chinesischen Führung und dem politischen System so glaubwürdig. Er kritisiert scharf, aber analytisch und präzise. Er hasst die Führung in Peking nicht, im Gegenteil: Er leidet mit an einer "Regierung, der der Mut für Reformen fehlt". Zhang will Chinas Führung nicht provozieren. Deshalb verzichtet er weitgehend auf bei der Regierung ungeliebte Interviews mit ausländischen Medien. Es geht ihm um seine Arbeit als Anwalt und den Aufbau eines funktionierenden chinesischen Rechtssystems. Wie kann es sein, dass die Parteiinstitutionen Anwälten und Richtern Urteile vorschreiben, wie kann es sein, dass die Behörden Beweise fälschen, wie kann es sein, dass die Regierung den UN-Pakt über zivile und bürgerliche Rechte schon so lange verabschiedet, aber nicht ratifiziert hat"?, fragt Zhang immer wieder ruhig. Er ist um eine Antwort nicht verlegen: "Solange eine Partei allein regiert, wird sie die Rechtsstaatlichkeit nicht vorantreiben."

Zhang wirkt wie ein Musterbeispiel an Selbstdisziplin. Aber er ist nicht abgebrüht, sondern lässt Gefühle zu und zeigt sie auch. Auf seinem Nachttisch liegt eine CD mit der Mondscheinsonate von Beethoven. Er liebt Musik, sagt er, sie berührt ihn. Tränen treten ihm in die Augen, wenn er über die von Studenten initiierte Protestbewegung 1989 spricht. "Ich habe damals jeden Tag geweint", sagt Zhang, "und ich wäre bei ihnen gewesen, aber irgendetwas hat mich Ende Mai zu einer Konferenz nach Wuhan fahren lassen." Weil nach seinem Verlassen Flughafen und Bahnhöfe abgesperrt wurden, erlebte er das blutige Ende der Protestbewegung am 4. Juni aus der Ferne.

Selten hat sich Zhang politisch brisante Fälle selbst ausgesucht. Aber wenn Klienten ihn um Verteidigung baten, hat er sie nie abgelehnt. So bat ihn 1991 der Sozialwissenschaftler Wang Juntao, der laut Zhang von der Partei als Vermittler in der Protestbewegung aufgerieben worden ist, um Verteidigung. Er war als Drahtzieher der Protestbewegung angeklagt. Die Behörden machten Zhang klar, dass es keinen Freispruch, nicht mal ein Plädoyer auf Freispruch geben dürfe. Also entlarvte der Rechtsanwalt die Punkte in der Anklageschrift Schritt für Schritt in gründlicher und präziser Manier als haltlos. Aber er lavierte in seinem Plädoyer mit einigen Fehlern und einer Teilschuld seines Mandanten. Das wirft er sich bis heute vor. Als Wang zu 13 Jahren Gefängnis verurteilt wurde, weinte Zhang zu Hause.

Der Fall von Bao Tong, Privatsekretär des nach dem Tiananmen-Massaker abgestraften Parteisekretärs Zhao Ziyang, hätte Zhangs Karriere als Anwalt dann beinahe beendet. Denn für Bao plädierte er auf Freispruch, überzeugend wie ihm einige später signalisierten. Er war ausnahmsweise relativ zufrieden mit seinem Plädoyer. Doch dann bekam Bao sieben Jahre Gefängnis. Die chinesische Partei wollte nichts wissen von Recht und Gerechtigkeit. Und sie wollte Zhang nun seine Anwaltslizenz entziehen. Durch geschicktes Stillhalten und Rabatzmachen im rechten Augenblick bekam er sie zurück. "Letztlich habe ich durch den Fall Bao sehr viel Selbstbewusstsein gewonnen", sagt Zhang, "denn ich habe gemerkt, ich kann solche Fälle souverän handhaben."

Er ist nicht verbittert, sondern sieht es als Aufgabe seines Berufsstandes an, den chinesischen Rechtsstaat in kleinen Schritten zu erstreiten. Auch nach 2000 übernahm er eine Reihe politisch sensibler Fällen, u. a. die Verteidigung seines Kollegen Zheng Enchong, der sich für Betroffene von Zwangsumsiedlungen in Schanghai eingesetzt hatte.

Zhang umgibt die Aura eines Einzelkämpfers. Er vertraut am meisten sich selbst. Dennoch sorgt er sich wie ein Vater um die junge Generation von Rechtsanwälten. In den letzten zwei Jahren hat er durch das Engagement der jungen Rechtsanwälte wieder neue Hoffnung für die Zukunft Chinas geschöpft. "Sie müssen nur die richtige Balance zwischen Selbstschutz und kämpferischem Engagement finden", sagt Zhang. Um einige macht er sich Sorgen, denn sie riskieren zu schnell die eigene Karriere und Freiheit. Mit einer radikalen Konfrontationsstrategie schaden manche außerdem ihren Mandanten.

Auch das Ausland kann bei der Entwicklung des chinesischen Rechtssystems helfen, so Zhang. Der Rechtsstaatsdialog zwischen der deutschen und der chinesischen Regierung öffnet vielen Kadern die Augen für den dominierenden Trend in puncto Recht auf der Welt, formuliert Zhang höflich. Auch wenn ihm Peking noch nicht unbedingt folgen mag, fügt er hinzu. "Jedoch sollten ausländische Organisationen stärker mit Partnern vor Ort, mit Universitäten und mit der Zivilgesellschaft zusammenarbeiten", wünscht er sich.

Er selbst engagiert sich weiter für Chinas Rechtsstaatlichkeit. Der agile 81-Jährige ist noch immer als Anwalt aktiv und reist durchs ganze Land. Familie und Freunde haben ihn wiederholt gebeten, etwas kürzerzutreten. "Aber ich fühle mich auf dem Stuhl bei Gericht am lebendigsten und am wohlsten", lacht Zhang. Es sei noch so viel zu tun, für die Freiheit, für die Gerechtigkeit und für China.

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