die wahrheit: Deutsche unken, amerikanische Gangster
In einer Sportart sind die Deutschen absolute Weltklasse: Im Unken würden sie momentan ganz sicher die Weltmeisterschaft gewinnen. Denn seit die große Krise ausgebrochen ist, ...
... wird geunkt, dass sich die Balken biegen. Kein Tag vergeht, an dem nicht irgendein hergelaufener "Experte" von irgendeinem eigenartigen "Institut" düstere Untergangsszenarien an jene Wand malt, an der die Deutschen angeblich bereits mit dem Rücken stehen.
Wer tatsächlich einen Gradmesser für Zustand und Zukunft des Landes sucht, der muss nur in der Vorweihnachtszeit eine x-beliebige Fußgängerzone ansteuern, in der die Deutschen ihrer zweitliebsten Beschäftigung nachgehen: dem Einkaufen. Die Läden sind völlig überfüllt, und die traditionelle Geschlechtertrennung findet wie eh und je statt: Vor den Bekleidungsgeschäften warten Männer mit vollbepackten Tüten gelangweilt auf ihre Frauen, und vor den Elektronikmärkten warten Frauen mit voll bepackten Tüten gelangweilt auf ihre Männer.
In einem Elektronikkaufhaus entdeckte ich jetzt zufällig einen sehr alten Film auf DVD: "Scarface" von Howard Hawks aus dem Jahr 1932 nach dem Drehbuch von Ben Hecht. Ich besitze eine enorm große Sammlung von Mafiafilmen mit herrlich abseitigen Produkten des Subgenres. Eigentlich hatte ich das Remake von "Scarface" aus dem Jahr 1983 von Brian de Palma nach dem Drehbuch von Oliver Stone gesucht. Jahrelang war diese DVD nicht erhältlich, und ich hatte den Thriller über den Aufstieg eines skrupellosen Gangsters immer nur in einer gekürzten Fernsehversion gesehen.
Auch jetzt fand ich den Film mit Al Pacino in der Hauptrolle nicht im Regal, also fragte ich einen Verkäufer. Er sah mich an, als ob ich Crack kaufen wollte, und führte mich an einen Schalter in einer abgelegenen Ecke. Dort erklärte ein weiterer Verkäufer, dass man die DVD tatsächlich vorrätig habe. Dabei sah er mich durchdringend an und betonte, dass es allerdings eine schwedische Version mit deutschem Ton sei, die man mir nur unter einer Bedingung verkaufen wollte: Ich müsste meinen Pass vorzeigen und zustimmen, dass meine persönlichen Daten aufgezeichnet würden. Außerdem müsste ich ein Formular unterzeichnen. Ein Verkäufer würde derweil die DVD aus dem Lager holen, der andere aber würde mit einer Kopie des Formulars zur Kasse gehen, wo wir uns alle drei wiedertreffen würden.
Fasziniert vom mysteriösen Prozedere stimmte ich zu, und nach etwa einer halben Stunde war das Geschäft endlich abgewickelt. Es war das erste Mal im Leben, dass ich Bückware kaufte, denn darum musste es sich bei der geheimnisvollen DVD handeln. Umso enttäuschter war ich, als ich mir den Thriller zu Hause ansah. Im Vergleich zu tarantinösen Kinowerken oder gar brutalstmöglichen Computerspielen ist der Film eher harmlos.
Wenn ich daher ausnahmsweise auch mal ein wenig unken darf, dann möchte ich voraussagen, dass die deutsche Wirtschaft demnächst massiv einbrechen wird. Denn auf Dauer wird keine Frau eine halbe Stunde vor der Tür eines Elektronikmarkts darauf warten, dass ihr Mann sich von Gangster spielenden Verkäufern auf den Arm nehmen lässt. Ich bin doch nicht blöd.
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