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Wikipedia-ManipulationEin Wilhelm zuviel

Ein Wikipedia-Autor erfand einen zusätzlichen Namen für den neuen Wirtschaftsminister von Guttenberg - und viele Medien, auch die taz, schrieben ab. Ist auf Wikipedia also kein Verlass?

Der Fehler auf der Titelseite der BILD-Zeitung vom Dienstag. Bild: Reproduktion BILD-Zeitung

Lang ist die Liste der Namen des neuen Bundeswirtschaftsministers Freiherr von und zu Guttenberg. So lang, dass ein Vorname mehr schon nicht auffallen wird - dachte sich ein gewisser "Anonym" - und fügte dem Wikipedia-Eintrag über von Guttenberg einfach einen weiteren hinzu: Wilhelm. Dazu bekannte sich "Anonym" nun in einem Artikel auf bildblog.

„Ich fragte mich, ob es jemand merken würde“, schreibt "Anonym". Mittlerweile weiß er: Nein, niemand hat es gemerkt. Weder das RTL Nachtjournal und Bild, noch das Handelsblatt, Spiegel Online, die Süddeutsche Zeitung oder die taz. Alle glaubten zu wissen, unser neuer Minister heißt „Karl-Theodor Maria Nikolaus Johann Jacob Philipp Wilhelm Franz Joseph Sylvester Freiherr von und zu Guttenberg.“

Mit über 860.000 deutschsprachigen und knapp 3 Millionen englischen Einträgen ist die Online-Enzyklopädie Wikipedia umfassend, ausführlich und schnell zugänglich - und so aus dem Alltag internetaffiner Menschen kaum mehr wegzudenken. Und kann mit etablierten Nachschlagewerken in Buchform locker mithalten. Vorteil, aber zugleich auch heikel an Wikipedia ist jedoch die Art und Weise, wie Artikel zustande kommen: Jeder kann Texte schreiben, jederzeit bestehende Texte verändern und verbessern. Aber auch Fehler einbauen - so wie "Anonym".

Journalisten wissen das. Doch auch sie möchten öfters informieren, um dies dann in ihren Medien zu verbreiten. Das nennt sich im Fachjargon Recherche - ein Vorgang, der stets gründlich geschehen sollte. Wikipedia ist mitlerweile so weit im Alltag der Menschen angekommen, dass auch die Medienschaffenden sich auf die Inhalte des Lexikons verlassen. Die Frage ist: dürfen wir das?

Die Ansichten, inwieweit Wikipedia als verlässlich anzusehen ist, gehen auseinander. In wissenschaftlichen Arbeiten zum Beispiel kriegen Studierende Punktabzug, wenn sie aus Wikipediaartikeln zitieren. Nach Auffassung des Wikipedia-Gründers Jimmy Wales völlig zu Recht: "Um Gottes Willen, ihr seid in der Uni; zitiert keine Enzyklopädien und erst recht keine Online-Enzyklopädie!" Andere sprechen von der Weisheit der Massen, die sich durch die zahllosen Mitautoren in den Artikeln kumuliert und den klassischen Enzyklopädien die eigene Verstaubtheit vorführt.

Die Quote von Fehlern und Ungenauigkeiten in den Wikipedia-Artikeln ist tatsächlich nicht auffallend hoch. Das renomierte Wissenschaftsjournal „Nature“ fand in einem Vergleich mit der Encyclopaedia Britannica vor drei Jahren heraus, dass die Wikipedia-Artikel fast so umfassend und genau sind, wie die des britischen Standardwerks. Dahinter steht ein basisdemokratischer Entscheidungsprozess, durch den viele Fehler und Ungenauigkeiten bereits beseitigt werden, bevor sie überhaupt Eingang in den öffentlichen Artikel finden. Dass so nicht alle Fehler rechtzeitig gefunden werden, zeigt das aktuelle Wilhelm-Beispiel.

Unter den Wikipedia-Autoren selbst sorgte die Manipulation für einige Irritationen. Einige wurden misstrauisch, entfernten die lange Vornamenliste des Politikers und begaben sich auf die Suche nach glaubwürdigen Quellen hierfür. Diese fanden sie bei Spiegel Online. Das Problem: deren Redaktion hatte offensichtlich selbst bei Wikipedia nachgeschlagen und „Wilhelm“ mit in die lange Liste der von Guttenbergschen Vornamen aufgenommen. So landete er erneut im Onlinelexikon. Journalisten glauben Wikipedia – und Wikipedia glaubt Journalisten.

"Anonym" hat uns hinters Licht geführt und uns daran erinnert, dass nicht immer alles so ist, wie es scheint. In Zukunft werden wir misstrauischer sein, aber solche Täuschungsversuche dürfen nicht zur Regel werden. Dann nämlich ist auf Wikipedia gar kein Verlass mehr. Wär' schade drum.

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