piwik no script img

Ein Jahr unabhängiges KosovoNur die halbe Freiheit

Angst vor den Serben hat Familie Bakija nicht mehr. Doch sie ist arm und hat in den neuen Strukturen nicht Fuß gefasst. Wie sich die Gesellschaft des Kosovo zu differenzieren beginnt.

Als Nation neugeboren, aber von Korruption, Armut und Mafia geplagt: Unabhängigkeitsdenkmal in Pristina. Bild: ap

Das Kosovo

Das Kosovo hat rund 2 Millionen Einwohner, davon über 90 Prozent Albaner, 6 Prozent Serben, die in Enklaven leben, und 3 Prozent andere Minderheiten wie Roma, Bosniaken und Gorani. Nach jahrzehntelanger Unterdrückung der albanischen Bevölkerungsmehrheit durch Serbien, der Entwicklung eines bewaffneten Widerstands ab 1997 und dem Scheitern der Verhandlungen von Rambouillet im Februar 1999 griffen Nato-Flugzeuge Serbien an. Der Bombenkrieg wurde im Juni 1999 mit dem Abkommen von Kumanovo beendet. Nato-Truppen rückten in das Kosovo ein, das bis 2008 unter UN-Verwaltung stand. Nach erneuten Verhandlungen (Ahtisaari-Plan) sollte das Kosovo mithilfe der EU in die europäische Integration geführt werden. Die Eulex-Mission unterstützt seit Dezember 2008 die Regierung der jungen Republik. Daneben wurde das ICO (International Civilian Office) installiert, das den Prozess der nation buildung überwachen soll. ER

Ein Jahr lang ist das Kosovo nun schon unabhängig. Das wäre doch ein Grund zum Feiern. Der 54-jährige Agran Bakija und sein Cousin Hadiu schauen müde auf. "Wir haben nur die halbe Freiheit", antworten sie wie aus einem Mund. Weil erst 54 Staaten den neuen Status anerkannt haben? Oder weil die Serben immer noch ins Kosovo hineinregieren? "Ach wo, das meinen wir doch gar nicht." Sie drucksen etwas herum und sind froh, als Hadius Frau Shred den Kaffee mit dem süßen Gebäck bringt und die Konversation unterbricht.

Wir sitzen in der Küche eines Hauses in Gjakova, einer Stadt im Westkosovo. Es ist ein altes Haus, umgeben von einem Rosengarten und Mauern. Hier wohnt Hadiu Bakija, der gelernte Jurist ist arbeitslos. Früher war er bei der Stadtverwaltung beschäftigt, doch in den 1990er-Jahren entließen die Serben alle albanischen Angestellten. Nach dem Einmarsch der Nato 1999 in der neuen Stadtverwaltung Fuß zu fassen, ist ihm nicht gelungen. Hadiu passte nicht ins Milieu der neuen Herren von der UÇK, der albanischen Befreiungsarmee.

Seine Frau Shred hat immerhin eine Arbeit als medizinische Gehilfin in der Augenklinik gefunden. Nun leben sie gemeinsam mit ihren beiden jüngsten Kindern von 190 Euro im Monat. Zwei ältere Söhne haben ihr Studium in Pristhina abbrechen müssen. "Wir konnten die beiden nicht mehr finanzieren", sagt die Mutter. Sie seien nach Albanien gegangen, wo ihnen entfernte Verwandte einen Job als Maschinenverkäufer angeboten hätten, berichtet sie. Sie stockt ein bisschen. Offenbar ist sie unsicher, ob die beiden in Tirana erfolgreich sind.

Der Vater ist da optimistischer. "Wenn alles gut geht, holen sie uns nach", hofft er etwas großspurig. Doch bis dahin hockt die Familie zu Hause, sie können sich nicht einmal einen Kaffee in einem der zahlreichen Lokale der Stadt leisten. 60.000 Einwohner zählt Gjakova. Nachts seien die Straßen dunkel, meinen die Eltern, es sei gefährlich, auszugehen. Für die Jugendlichen gibt dem entsprechend keine Angebote. Die 14-jährige Tochter Lirika lernt darum fleißig Englisch. Sie möchte einmal Journalismus studieren. Bisher hat sie von der Welt draußen wenig zu sehen bekommen. "Jedes Jahr kommen italienische Kfor-Soldaten und bringen die besten Schüler zu ihrem Stützpunkt bei Peja. Dort gibt es Essen und Süßigkeiten." Das aufgeweckte Mädchen lacht auf. Und blickt dann ernst nach unten.

Es fällt den Bakijas nicht leicht, über ihre soziale Lage zu sprechen. Der größte Teil des alten Hauses ist zugesperrt, die Familie wohnt in einem leichter heizbaren Anbau. Doch sie öffnen für den Besucher den großen Besuchsraum mit dem Rundumsofa und den Teppichen, den Bildern mit den Ahnen, den getäfelten Raum mit dem Erker, weisen auf die Einlegearbeiten und die aus streichholzgroßen Holzstückchen kunstvoll gearbeiteten Möbel. Das Haus ist 200 oder 300 Jahre alt, so genau weiß das niemand.

Die Bakijas sind stolz auf ihre Familiengeschichte. An der Wand hängt ein Stammbaum. Im 16. Jahrhundert hießen sie noch Gioni und waren Christen. Erst mit dem 1729 geborenen Sulejman Fet Bakija kam der Islam in die Familie. Vermutlich gehörte die Familie lange Zeit zu den Kryptochristen, die nur nach außen hin Muslime waren. Im 19. Jahrhundert ließen sie sich dann von den Bektaschi beeinflussen, einer in der Region verbreiteten liberalen schiitischen Sekte, die großen Wert auf Bildung auch der Mädchen legte. Die Frauen der Familie würden nie auf die Idee kommen, ein Kopftuch zu tragen. Besonders religiös sind die Bekijas, Nachkommen jener Kämpfer für Albanien zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die mit den "Gründern der Liga von Prizren" zusammenarbeiteten, auch heute nicht. Damit stehen sie allerdings nicht allein. Die Albaner im Kosovo sind größtenteils keine guten Moscheebesucher.

Der angegraute Agran zeigt auf das Bild eines uniformierten jungen Mannes. "Das ist Mustafa Bakija, der Partisan. Er ist 1944 im Kampf gegen die Faschisten gefallen." Im Sozialismus hieß sogar das Gymnasium nach ihm. Die Familie stand in hohem Ansehen. "Das war eine schöne Zeit", sagen die Cousins. In den 1970er- und 1980er-Jahren boomte in Gjakova die Textilindustrie, 12.000 Menschen arbeiteten in dem Kombinat. "Es gab praktisch keine Arbeitslosigkeit." Doch die Fabrik ging in den 1990er-Jahren pleite. "Seither sind viele arbeitslos, der Krieg besorgte den Rest", sagt Agran.

Denn in Gjakova gingen die serbischen Truppen besonders grausam vor. Als die Nato vor zehn Jahren Serbien bombardierte, brannten serbische Soldaten und Extremisten die westliche Seite Gjakovas nieder, töteten hunderte von Menschen, zerstörten die Bibliothek der Bektaschi-Sekte mit vielen Folianten aus dem 15. und 16. Jahrhundert, plünderten die Geschäfte und zerstörten die Werkstätten. "Wir wagten uns nicht auf die Straße", sagt die Mutter. Am 10. Mai 1999 flohen die Bakijas mit zwei Autos über einen abgelegenen Gebirgspass nach Albanien. Nach dem Einmarsch von Nato und UÇK kamen die Bakijas im Sommer zurück. "Das war schon eine Befreiung. Eine solche Angst wie damals brauchen wir heute nicht mehr zu haben", sagt Agran.

Das alte Haus von Hadiu und Shred war unversehrt geblieben, ebenso Agrans Haus, das in der gleichen Straße liegt. Glück gehabt. Die Serben hatten das kleine Viertel verschont. Auch das Denkmal des Partisanen Mustafa Bakija stand noch. Und steht bis heute mitten auf dem Hauptplatz der Stadt. Die Straßen um das Denkmal sind belebt, Autos parken überall, gegenüber betreibt ein weitläufiger Verwandter eine Metzgerei. Der habe sein Auskommen gefunden, erkennt Agran neidlos an. Das Geschäft für Malereibedarf hat ausreichend Kundschaft. Und der Schnellimbiss an der Ecke ist gut besucht.

Wer ein Geschäft aufgebaut hat und privatwirtschaftlich arbeitet, dem geht es besser als dem Durchschnitt. Die Gesellschaft beginnt sich zu differenzieren. Ein ehemaliger Schneider aus der Nachbarschaft ist sogar reich geworden. Doch die meisten Menschen leben, nach außen nicht zu erkennen, am Rande des Hungers. Die Kassiererin des Supermarkts, eine alleinerziehende Mutter mit vier Kindern, ist heilfroh, 180 Euro monatlich zu verdienen. Vorher war sie auf Spenden der Verwandtschaft angewiesen.

Agran selbst war bei der Pensionskasse Jugoslawiens und der autonomen Region Kosovo angestellt. Die Renten wurden unter Slobodan Milosevic trotz aller Repression noch bis 1999 an Albaner ausgezahlt, erklärt er. Im neuen Staat erhalten die Rentner nur 40 Euro monatlich, seit Januar 2009 hat sich der Beitrag für alle, die nachweislich 15 Jahre gearbeitet haben, um 35 Euro erhöht. Agran hilft dabei, eine neue Pensionskasse aufzubauen. Doch das System funktioniere noch nicht so recht. "Lüg doch nicht", sagt ein Nachbar. "In den Institutionen unseres unabhängigen Staates ist viel Geld verschwunden." Die Chefin der Pensionskasse habe sich selbst 9.000 Euro Gehalt gegönnt. 80 Millionen seien verschwunden, hätten die Zeitungen geschrieben.

Wie auf dem Balkan üblich werden die einheimischen Politiker wüst beschimpft. Niemand traut ihnen die Lösung der Probleme zu. Immer mehr Nachbarn umringen jetzt den ausländischen Reporter. Und fragen, ob die Eulex-Mission der EU, die seit Mitte Dezember mit 1.400 Polizisten, Richtern und Staatsanwälten aufgebaut wird, daran etwas ändern wird. Die seit 1999 anwesende UN-Mission habe ja selbst in die eigenen Taschen gewirtschaftet. Wird Eulex wirklich gegen die Korruption und die Mafia vorgehen? "Dann erst sind wir frei." Nach einer langen Diskussion, ob man das nächste Mal wählen gehen sollte, zerstreut sich die Gruppe. Bei den letzten Wahlen lag die Wahlbeteiligung bei nur 40 Prozent.

Bei Agran zu Hause sitzt der 15-jährige Sohn Andi vor dem Computer. "Er flüchtet in die Welt des Internets", sagt sein Vater. Doch Andi gefällt es. "Ich kann sogar reisen, nach Feuerland, in die Sahara, nach Nepal und Deutschland. Und bin mit aller Welt verbunden."

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!