piwik no script img

die wahrheitIm Jahr des Ochsen: Die Frauen schlagen aus

Seit Sonntag haben wir in Peking Frühling. Offiziell beginnt er allerdings erst am 1. April...

...Das ist zumindest die Antwort auf Frage 83 "Wie viel Tage hat jede Jahreszeit in Beijing?" in meinem allwissenden Lieblingsbuch "China-Reisen: 999 Fragen und Antworten" aus dem Verlag Volkschina: "Der Frühling dauert vom 1. April bis zum 4. Juni (65 Tage)". Der Pekinger unterscheidet sich damit von allen sonstigen Frühlingen auf der Nordhalbkugel. Nach der World Meteorological Organization, einer Unterorganisation der UNO, fängt der nämlich meteorologisch jedes Jahr am 1. März an, beziehungsweise astronomisch in diesem Jahr am 20. März, genau um 12:43 Uhr.

Tatsächlich ist das mit dem Frühlingsbeginn am 1. April jedoch ein kleiner Scherz. In der Realität startet der Frühling hier bereits am 15. März, denn dann werden die Heizungen ausgestellt, die über Fernheizungsrohre gespeist werden. Und das sind praktisch alle. Dabei ist es relativ egal, welche Temperaturen draußen herrschen. Nur bei extremer Kälte wird die Heizperiode verlängert. Ist es draußen einfach nur sehr kühl, muss man sich eben in der Wohnung einen dicken Mantel anziehen oder mit Strom weiterheizen.

In diesem Jahr ist es zum Glück pünktlich zum Heizungsabstellen warm geworden, tagsüber steigt das Thermometer schon auf zwanzig Grad. Der Frühling ist jetzt also wirklich da. Das kann man auch am Verhalten der Pärchen auf der Straße ablesen. Vor ein paar Tagen sah ich ein erstes, dass sich an einer belebten Kreuzung innig küsste und umarmte. Das führte gleich zu einem kleinen Volksauflauf und noch in hundert Metern standen etliche Pekinger stocksteif da und starrten.

Das Pärchen war natürlich ein europäisches, denn chinesische Liebespaare küssen sich nicht öffentlich. Sie schlagen sich stattdessen lieber oder ringen. Das sieht so ähnlich aus wie bei Kindern und Jugendlichen unterschiedlichen Geschlechts, die aneinander zerren, sich puffen oder kloppen, um dem anderen Geschlecht einerseits körperlich nahe zu sein, um aber andererseits den Eindruck von liebevoller Zuneigung zu vermeiden. Ein solches Verhalten hatte bereits 1987 der große China-Reisende Paul Theroux beobachtet, der in seinem tollen Buch "Riding The Iron Rooster" Pärchen in einem Schanghaier Café beschrieb, die ineinander "in Halb-Nelsons verschränkt waren, die sie für leidenschaftliche Umarmungen hielten." Ein Halb-Nelson ist ein Nackenhebel beim Ringen.

Und so beginnen sich jetzt also die Pärchen wieder auf den Pekinger Straßen zu verhauen. Interessanterweise sind es meistens die Frauen, die damit anfangen, vorzugsweise mit kleinen Faustschlägen auf den Oberarm des Mannes. Und weil ich hier immer auf der Suche nach zusätzlichen Einnahmequellen bin, überlege ich, ob ich nicht zu diesem Ritual und nach der Melodie von "Der Mai ist gekommen" einen chinesischen Frühlingsschlager schreiben soll: "Der März ist gekommen, die Frauen schlagen aus" dürfte sicherlich ein Renner werden. Nur brauche ich noch jemanden, der mir den Song ins Chinesische übersetzt. Meine chinesische Frau zu fragen, traue ich mich im Moment nicht. Ich habe etwas Angst vor ihren Liebesschlägen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen