Schriftsteller Joel Agee: Der Mann, der endlich ankommen wollte

Lange war der Joel Agee ein ruheloser Nomade. Erst als er anfängt zu schreiben, findet er seine Heimat - in der Sprache.

Joel Agee steht auf dem Balkon. Von da hat er einen traumhaften Blick auf den Wannsee. Die Wohnung - schlicht ist sie und edel - liegt in der großen weißen Villa, eingebettet in einen Park. Die Villa war Agees Zuhause, ein halbes Jahr lang. Hier schrieb er als Stipendiat der American Academy in Berlin sein drittes Buch.

Vor über 40 Jahren war Agees erste Station in Berlin nicht weniger spektakulär als die Villa: Denn nachdem er den Stasi-Beamten an der Grenze zur DDR die beiden Ausweise, die er bei sich trug, zeigte, verhafteten sie ihn. Zwei Pässe - für die Beamten an der Grenze war das einer zu viel. Gezeigt hatte Agee sie ihnen aus Angst, sie könnten sie sonst ohnehin finden und ihm Spionage unterstellen. Genau das geschah trotzdem. 1964 war das.

Der damals 24-Jährige wurde mit seinem amerikanischen Ausweis auf den Namen Joel Agee und dem DDR-Ausweis auf den Namen Joel Uhse ins Stasi-Hauptquartier in Lichtenberg gebracht. Auf seine Frage, warum er denn, wäre er Spion, seine beiden Pässe gezeigt haben sollte, antworteten die Stasi-Männer: "Das versuchen wir herauszufinden."

Jetzt, 45 Jahre später, sitzt Agee auf dem Ledersofa in der Villa am Wannsee und lacht über seine damalige Naivität. Er erzählt, er sei schon immer amerikanischer Staatsbürger gewesen. Amerikanischer Staatsbürger - immerhin, diese Konstante gibt es in seinem Leben. Er war es auch, als er bald nach seiner Geburt mit seiner Mutter nach Mexiko zog und acht Jahre lang dort lebte. Sein zweiter Ausweis, der ihn zum DDR-Bürger machte, kam später dazu. Wenn auch nicht offiziell.

In Mexiko nämlich hatte sich Alma Agee, seine Mutter, die jüdischer Herkunft war, in Bodo Uhse verliebt. Der war Schriftsteller, Spanienkämpfer und Kommunist und verbrachte die Nazizeit dort im Exil. Uhse ist ein schillernder Mensch. Einer, der für große, für heroische Ideen leben wollte und sie, bevor er Kommunist wurde, auch bei der NSDAP suchte. Nach dem Krieg zog es ihn nach Deutschland zurück. Er ging in die sowjetische Besatzungszone. Von Ostberlin aus wollte er dem Sozialismus zum Durchbruch verhelfen. Alma sowie sein einjähriger Sohn Stefan und der Stiefsohn Joel kamen mit. Von Mexiko aus fuhren sie mit dem Schiff über die Sowjetunion und landeten in Wismar. Eine andere Verbindung gab es 1948 nicht.

Uhse wurde warmherzig in Ostberlin empfangen. Die vier lebten ein bourgeoises Leben im Sozialismus in einem Haus am Glienicker See. Hausmädchen, Chauffeur und Pferd gehörten dazu. Damit auch der damals achtjährige Joel sich in der 1949 gegründeten DDR heimisch fühle, bekam er auf unbürokratischem Weg den zweiten Ausweis ein paar Monate nach der Ankunft dazu.

Mit 20 ging Joel Agee nach New York, seiner Geburtsstadt, zurück. Dort vergaß er seine doppelte Staatsbürgerschaft. Richtig Fuß fassen konnte er, obwohl für die Behörden reiner Amerikaner, in den USA nicht. "Ich war ein unbeholfener Halbeuropäer." Er versuchte zu studieren. Scheiterte. Versuchte was anderes - Journalismus, Filmerei.

Als er 1964 bei der Defa in Ostberlin einen Antrag auf Zuschuss für einen Dokumentarfilm über den Karneval auf Kuba stellen wollte, fiel ihm der Ausweis wieder ein. Ein spontaner Einfall. "Karneval im Sozialismus - das gefiel mir. Die DDR hatte ich als freudlos in Erinnerung."

Um sich in der DDR als Sozialist auszuweisen, nahm er den Ausweis mit. Er wollte zeigen: "Ich gehör doch dazu." Die Stasi-Leute brauchten eine Zeit lang, um das zu verstehen. Nach einigen Stunden Verhör boten sie ihm eine Arbeit als Spitzel an. Er lehnte ab. Der Film wurde nie gedreht.

Etwas allerdings passierte beim Verhör: Agee begann zu zweifeln. Im Zimmer nebenan wurde jemand verprügelt. Er konnte nichts tun. Da bekam die hehre Idee seiner Eltern, der Sozialismus sei ein gutes System, das nur fehlerhaft umgesetzt würde, Risse.

Heute hat Agee weiße Haare und Altersflecken im Gesicht. Er strahlt Würde und Lebenserfahrung aus. Politik, das habe er lange erkannt, sei notwendig, aber nicht das Wichtigste auf der Welt. Dennoch hat er sich nie so sehr für Politik interessiert wie im Moment. Dass Barack Obama die Wahl gewonnen hat, hat eine große Bedeutung für ihn. Nur fürchtet er um dessen Leben - wie seine Frau Susan auch. Schon lange verleiht sie Agees sonst so unstetem Leben Beständigkeit.

Die beiden verliebten sich in den Sechzigerjahren. Sie waren jung. Anfang zwanzig. Ein paar Monate nachdem sie sich kennen gelernt hatten, begannen die zwei eine Reise im Bus durch Europa, auf der Suche nach Seelenverwandten. Erschwert wurde das Unterfangen nicht nur von der kurz zuvor geborenen Tochter, sondern auch dadurch, dass beide zwar das Auto, aber keinen Führerschein hatten. Ständig musste Leute gefunden werden, die fahren konnten und wollten. "Es war eine unruhige und doch eine gute Zeit", sagt er - weil dem unbeholfenen Halbeuropäer die Hippies zu einer Familie, das Nomadentum zu einer Heimat wurden. Drogen, lange Haare, eigene Regeln: "Ich hatte das Gefühl, hier passe ich rein."

Mit anderen zusammen experimentierte Agee mit psychedelischen Drogen, die starke und lang anhaltende Halluzinationen bei ihm auslösten. Wie es ist, sich selbst für Gott zu halten, hat er in seinem Buch "In the House of My Fear" aufgeschrieben. Es ist ein Roman über die Suche eines jungen Mannes nach sich selbst. In den Wahnvorstellungen der Hauptfigur kehrt eine Stimme immer wieder zurück. "Wer bist du?", fragt sie. "Ich weiß es nicht", gibt der junge Mann zu. "Da war ein gewisses Leiden an mir selbst, das mich suchen ließ", erzählt Agee. Dieses Leiden hatte auch seinen jüngeren Bruder, der sich schließlich umbrachte, heimgesucht.

Der Selbstmord seines Bruders Mitte der 70er-Jahre stellte einen Wendepunkt in Agees Leben dar. Bis dahin hatte er sich als Journalist durchgeschlagen. Obwohl er doch eigentlich von klein auf Schriftsteller werden wollte. Aus Angst zu scheitern hat er sich zurückgehalten. Vor allem aber auch, um nicht mit seinem geisteskranken, hoch begabten Bruder zu konkurrieren, der Stücke schrieb. Und plötzlich tot war. Ein Text über den Besuch im Leichenschauhaus, wo er seinen Bruder zum letzten Mal sah, ist Agees erstes literarisches Stück, das publiziert wurde.

Ein weiteres Buch veröffentlichte er ein paar Jahre später. Es heißt "Twelve Years" - zwölf Jahre - und beschreibt seine Jugend in der DDR. Agee erzählt darin, wie er dazugehören wollte, wie er so sein wollte wie die andern Jungen. Dass er Mitglied der FDJ war, machte ihn stolz. In Mexiko war er immer ein "Gringo" gewesen, in der DDR aber war er ein echter Berliner. "Einmal, viel später bei einer Reise, bemerkte ich, dass ich berlinerte, aber es klang falsch. Als ahmte ich es nur nach. Das hat richtig weh getan", erzählt er. Als hätte er den Ort seiner Jugend nun endgültig verloren.

Berlin, Mexiko, New York, Europa, Amerika - eine Erfahrung schiebt sich bei Agee über die andere. Deshalb ist es kein Widerspruch, wenn er zum Blick über den Wannsee sein drittes Buch schreibt über seine Kindheit in Mexiko. Natürlich kann er sich nicht mehr an alles genau erinnern. Doch im Schreiben erfindet er seine Erinnerungen und seine Geschichte neu. "Indem ich das Erlebte aufschreibe, helle ich es auf und gestalte es zu einer sinnvollen und schönen Form. Im Schreiben lerne ich meine Kindheit näher kennen", erklärt er.

Agees Geschichte ist eine vom Weggehen, um anzukommen. Seit er sich allerdings mit dem Buddhismus beschäftigt, sei er nicht mehr auf der Suche: "Ich habe einen Weg gefunden, in dem man ankommt, anstatt ständig im Aufbruch zu sein."

Und wie kommt er in Berlin an? Erkennt er die Stadt wieder? Natürlich sei sie bunter als früher. Aus toten Bezirken wurden lebendige, sagt er. Aber was wiegt ein Ort? Was ein weiße Villa? Ein Blick über den See? Zu Hause fühlt sich der Schriftsteller, der heute in den USA lebt, vor allem in der Sprache - auch in der deutschen. "In der nämlich gibt es Heimat. Welch ein Wort!"

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